Hubert Jenniges: Heimatgeschichte – eine Brücke zu den Ursprüngen

Abgelegt in Heckingschild

Geschrieben am 12.11.2011

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Laudatio für Alfred Bertha anlässlich der Verleihung des Heckingschildes durch den Geschichts– und Museumsverein «Zwischen Venn und Schneifel» am 10. April 2010, im Rathaus der Stadt St.Vith

Lieber Alfred Bertha, verehrte Familie Bertha,
werte Festversammlung!

“Auf  schönem Land fiel mir mein Anteil zu. Ja, mein Erbe gefällt mir gut!”
Dieser Spruch aus dem erhabenen Buch der Psalmen soll jetzt nicht das “Wort zum Sonntag” einleiten, sondern der Laudatio für unseren neuen Heckingschildträger Alfred Bertha einen sinnvollen Einstieg geben.
Der “Anteil” des schönen Landes, den ich meine, spiegelt den vielfältigen Reiz eines auβergewöhnlichen Geschichts-und Kulturraumes wieder, der im nördlichen Dreiländereck Ostbelgiens, im weitgestreckten Tal der Göhl, beginnt und über die Vennhöhen hinweg bis zur Eifel eine traditionsreiche europäische Königslandschaft beschreibt. Auf beide Anteile kann Alfred Bertha verweisen: Die herbe schöne Eifel wurde ihm als heimatliches Erbe in die Wiege gelegt, das anmutige Göhltal ist nach emsigem Studium der Kultur und Geschichte dieses Raums sein erworbener Anteil. Was beide Gebiete in jahrtausendlanger Vergangenheit hervorgebracht haben, gehört zu seinem geistigen Erbgut.
Werdegang und Wirken Alfred Berthas können auch aus diesen beiden Fenstern beobachtet werden. Göhltal und Eifel geben in Ausblicken, die in einander flieβen, die Sicht auf eine groβe, bunte Freske frei. Es zeigt sich sogleich, dass beide Elemente von einem Faktor beherrscht werden, von dem Faktor “Grenze”, der wie ein roter Faden durch das Leben und Wirken des neuen Heckinschildträgers zieht.

Die Grenze

Denn: Alfred Bertha ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Kind der Grenze – und jeder, der ein solches Umfeld kennt – weiβ um die Gratwanderung, die man zeitlebens in einem Grenzland vornehmen muss.
Schon der Tag ist bezeichnend, an dem Alfred Bertha das Licht der Welt erblickte. Geboren wurde er an einem Grenztag, genauer gesagt: am 1. Januar des Jahres 1936, an einem Tag, der ein Anfang ist, der das Tor eines neuen Zeitabschnitts öffnet, der an der äuβersten Grenze eines neuen Beginns liegt.
Alfred Bertha ist ein Kind dieser kriegserschütterten Eifel-Erde. Seine Kinderzeit spiegelt die bittere Tragik unserer Grenzregion wieder. Sein Vater wurde 1942 zur Wehrmacht einberufen und fiel 1943 in Stalingrad. Er hinterließ eine Witwe und vier Buben als Waisen.
Innerhalb der engsten Familienstruktur war das Grenzelement bereits vorhanden. Die Mutter mit Eifeler Wurzeln stammte aus dem lothringischen Öttingen, aus einem Landstrich, wo ebenfalls seit Menschengedenken Grenzen mit Gewalt und List verschoben worden sind.
Alfred Berthas Heimatort ist Born, eine Ortschaft am Rande des im Jahre 670 bereits als Grenzpunkt genannten Hofgebiets von Amel, eine Siedlung, die viele Jahrhunderte lang zu Herrschaftsgrenzen überleitete, die später zu Landesgrenzen wurden. Grenzpfähle schieden einst das luxemburgische Territorium von der reichsunmittelbaren Fürstabtei Stablo-Malmedy und später das Königreich Preußen von dem Königreich der Niederlande bzw. ab 1830 dem Königreich Belgien.
Fränkische Siedler gründeten unweit der Sprachgrenze die Ortschaft Born. Die Siedlung lag im germanischen Sprach-und Kulturkreis; doch jenseits des mächtigen, geheimnisumwitterten Wolfsbuschs erklangen bereits romanische Laute. Seit dem frühen Mittelalter hat sich hier eine Sprach- und Volkstumsgrenze stabilisiert, die Land und Leute beiderseits des großen Waldes endgültig geprägt hat.
Doch damit nicht genug: Alfred Bertha fand, nach seinem Studium der klassischen Philologie an der Katholischen Universität Löwen, eine neue Heimat im Göhltal, in einer Grenzlandschaft, wo einst altlimburgisches Gebiet mit der Reichsstadt Aachen zusammentraf, und wo heute drei Länder in einander greifen und zum Kernstück der Euregio Maas-Rhein geworden sind. Berthas berufliches Wirkungsfeld lag im Montzener Land, einer kulturellen Zwischenregion, die sich im jungen Belgien des 19. Jahrhunderts noch komplexlos zur “Deutschsprachigkeit” bekannte.
Die internationale “Grenzpolitik”, die auf dem Wiener Kongress von 1815 schonungslos betrieben wurde, schuf ein Jahr später im Aachener Grenzvertrag ein territoriales Unikum, das über 100 Jahre die Geschichte genarrt hat: Es war das wegen seines Erzvorkommens begehrte Neutral-Moresnet, ein Fetzen Land, das schließlich, bis zum Versailler Vertrag Bestand hatte – ein Gebiet, wo man glaubte, in der Behaglichkeit international verbürgter Grenzen für immer sicher leben zu können.
Mit der Entscheidung, im Frühjahr 1964 sich definitiv in diesem grenzdurchzogenen Land, und zwar in Hergenrath, niederzulassen, tritt erneut ein alter Grenzort in seine Biografie ein. Wie der Siedlungsname bereits verrät, ist Hergenrath eine mittelalterliche Rodung, die an der Peripherie des karolingischen Königshofes, der so genannten Bank Walhorn entstanden ist –  Hergenrath ist ein dem Walde abgerungener Grenzort.
Fürwahr, Markierungslinien sind im Leben des neuen Heckingschildträgers eine Konstante. Und so gesehen, ist Alfred Bertha ein Grenzfall. Grenzen haben sein Leben -bewusst oder unbewusst – begleitet, gelenkt, geprägt.
Nun können die von der Natur geschaffenen und willkürlich von Menschenhand gezogenen Scheidungslinien den Drang zum Partikularismus begünstigen und dazu führen, sich in die kleine Nische des eigenen Ichs zurückzuziehen; sie können aber auch einen Befreiungsschlag bewerkstelligen, eine Überwältigung aufgebauter Schranken, ein Aufbrechen der Barrieren bewirken. Das war und ist bei Alfred Bertha der Fall. Das können wir in seiner fruchtbaren Forschungsarbeit und in den zahlreichen Publikationen nachweisen, die seit 40 Jahren unsere Bibliotheken bereichern.

Im Göhltal

Das Studium der Heimatgeschichte ist für Alfred Bertha eine Brücke, die zunächst zu der wechselvollen Geschichte seiner Wahlheimat, des Göhltals, führt. Als er 1960 als junger Latein-und Griechischlehrer am Gymnasium der Oblatenpatres in Gemmenich seine Laufbahn begann, wurde dieser Ort mitentscheidend für sein heimatgeschichtliches Wirken. Hier hat er nach eigenen Worten “einen Bazillus geschluckt, von dem er sich bis heute nicht befreien konnte”. In einem Brief an den Laudator bekundete Alfred Bertha sein damaliges Vorhaben, in der neuen Umgebung heimisch zu werden. “Diese Umgebung kann man nur durch ein intensives Befassen mit der Geschichte kennen lernen”, schrieb er. Im Gegensatz zu dem Einheimischen müsse der Zugezogene alles, was diesen Flecken Erde ausmache, noch  erarbeiten. Hören wir hier nicht schon des Psalmisten Worte: “Auf  schönem Land fiel mir mein Anteil zu. Ja, mein Erbe gefällt mir gut!”?
Und er trat das Erbe an; denn 1966 stand Alfred Bertha an der Wiege der Vereinigung, die mit dem programmatischen Namen “Vereinigung für Kultur, Heimatkunde und Geschichte im Göhltal” aufhorchen ließ und im Grenzraum Nordostbelgiens neue kulturelle Akzente setzen wollte und auch gesetzt hat.

Meine Damen und Herren!
Die 1960-er Jahre waren eine orientierungsreiche Zeitspanne, die in unserem Grenzland einen Aufbruch einläutete, der zu einem größeren sprachlich-kulturellen Selbstbewusstsein und zu einer deutlicheren politischen Positionierung der Deutschsprachigen geführt hat. Zu den gärenden Kräften dieser Zeit gehörten u.a. auch die Geschichtsvereine. Es ging bei ihnen natürlich darum, den Menschen die eigene Geschichte näher zu bringen, aber auch – so habe ich es zumindest verstanden – gerade durch die Vermittlung der Vergangenheit der Menschen angeschlagenen Stolz neu zu beleben, die Substanz ihrer Eigenheit zu stärken und so bis in das Herz ihrer Identität vorzustoßen.

Meine Damen und Herren!
Es wäre sicher für einen jungen Akademiker(in) eine lohnende Forschungsarbeit, die aufbauende, soziokulturelle Leistung der ostbelgischen Geschichtsvereine, vor allem ihre Rolle bei der Bewusstseinsbildung in der Anfangsphase der Autonomiewerdung der DG (und auch in der späteren Entwicklung) wissenschaftlich zu untersuchen. In einer Zeit, wo der “ostbelgische Aufbruch”, wie ich die 60er- und 70er- Jahre nennen möchte, noch mit Argusaugen der Staatssicherheit begleitet wurde, und wo man glaubte, dass Begriffe wie Heimat, Sprache und Kultur nur im tiefen Schatten der Deutschtümelei oder der Nazi-Ideologie zu finden seien, in dieser Zeit hat das Wirken der Geschichtsvereine zu einer wohltuenden Rehabilitierung und Enttabuisierung dieser von der jüngsten Vergangenheit belasteten und beschädigten Begriffe geführt.
Der Altphilologe aus der Eifel in einem altbelgischen Gymnasium stieg mit Begeisterung in die Geschichtsforschung ein. Gewiss hatte diese Tätigkeit in der Kulturlandschaft des Göhltals einen ungleich schwereren Stand als beispielsweise in Eupen und im Lande zwischen Venn und Schneifel. Im Göhltal flossen zwei Räume ineinander, die zwar den gleichen Kulturwurzeln entsprangen, die aber in den letzten 200 Jahren durch politische Trennungen, durch gegensätzliche sprachlich-kulturelle Ansprüche und durch die dadurch entstandenen, unterschiedlichen nationalen Erfahrungen auch andere geistige Orientierungstürme vorgesetzt bekommen hatten. Hier galt es, das altbelgische Montzener Land mit dem neubelgischen Nachbargebiet in einem Betätigungsfeld voller Sensibilitäten, selbst vieler Animositäten zu vereinen, wo Kultur, Heimatkunde und Geschichte zu einem befreienden Element ungestörten Zusammenlebens werden sollen und somit Gegensätze glücklich abgebaut werden können.
Die Aufgabe war beileibe nicht einfach, weil gerade in den so genannten altbelgischen Gemeinden des Montzener Landes ängstliche Vorsicht herrschte, mit Zurückhaltung reagiert wurde und wiederholt die Gefahr einer “Regermanisierung” dieses Landstrichs beschworen wurde. Es war eine “Schattenbeschwörung”; sie ist heute glücklicherweise verklungen.

Werte Festversammlung!
Ich verrate Ihnen keine vatikanischen Geheimnisse, wenn ich die engen Kontakte erwähne, die ich seit 50 Jahren mit Alfred Bertha gepflegt habe, so auch 1966 bei der Gründung der “Vereinigung für Kultur, Heimatkunde und Geschichte im Göhltal”. In meinem Briefarchiv finde ich einen Gedankenaustausch aus jener Zeit, denn offensichtlich hatte die Gründung des Geschichtsvereins “Zwischen Venn und Schneifel” im Jahre 1965 eine Signalwirkung verursacht; denn in Anlehnung an die ZVS-Zielvorgaben waren im Laufe des Jahres 1966 der Eupener Geschichts-und Museumsverein und die Göhltalvereinigung gegründet worden.  Alfred Bertha bedankte sich übrigens bei mir für die infrastrukturelle Hilfe bei der Übernahme der auf die Göhltal-Verhältnisse zugeschnittenen ZVS-Statuten. Am 20. Dezember 1966 schrieb er mir: “In unseren Satzungen haben wir uns von denen Eurer Vereinigung inspirieren lassen. Seht es bitte nicht als geistigen Raub an!”

Meine Damen und Herren!
Die Gründung der “Göhltalvereinigung” war ein mutiger Schritt, bei dem Alfred Bertha federführend war. Diese Vereinigung ist übrigens, meines Wissens, seit 1920 das bedeutendste, das einzige und noch stets erfolgreich laufende Projekt einer “leisen Grenzüberschreitung” zwischen Alt- und Neubelgien; wobei ich betonen möchte, dass ich persönlich die Begriffe “Alt”- und “Neubelgien” nicht als gängige Gebietsbezeichnungen weiter empfehlen möchte, obgleich sie in soziolinguistischen Arbeiten eines Brüsseler Instituts noch stets verwendet werden.
Die seit ihrem Erscheinungsjahr 1967 in Gemmenich gedruckte Halbjahres-Zeitschrift “Im Göhltal”, die seit Anbeginn von Alfred Bertha mustergültig redaktionell betreut wird, ist in der Tat derzeit noch das einzige Schrifttum, das dem Montzener Land einen ansehnlichen Platz einräumt, das diesem geschichtsträchtige Raum eine angemessene Stimme verleiht und der Kulturpflege einen hoffnungsvollen Halt gibt.
Über 150 geschichtliche und kulturelle Beiträge hat Alfred Bertha über diesen Raum geschrieben, mehrheitlich in der Vereinszeitschrift, aber auch in anderen Veröffentlichungen und in selbstständigen Publikationen. Ich erinnere insbesondere an die ansprechende Monografie zur Geschichte der Göhltalorte, die anlässlich des 25jährigen Bestehens der Vereinigung als Sondernummer erschienen ist. Es ist eine gelungene Veröffentlichung zur Geschichte, Kultur und Beschaffenheit der Göhltalorte von Teuven bis Montzen und von Kelmis bis Raeren, sodass das Gebiet als eine kulturelle Einheit angeboten wird. Alfred Bertha vermittelt uns somit wertvolle Bausteine einer regional¬geschichtlichen Architektur. Er bringt uns einen auβergewöhnlichen Raum näher, den heute viele Menschen  mit liebevollem Stolz ihre “Heimat” nennen.
Dazu gehört auch die 1996 veröffentlichte Darstellung der Ortschaft Hergenrath von den Anfängen bis heute. Das Buch ist mit Sachkenntnis und viel Liebe zum Detail geschrieben und kann als Beispiel einer gewissenhaft aufgearbeiteten und gut lesbaren Dorfchronik gelten.

Die Eifel

Die Wahlheimat des Heckingschildträgers, das Göhltal, hat das Interesse zu der angestammten Eifel keineswegs verdrängt. In den Monatsblättern “Zwischen Venn und Schneifel” tritt Alfred Bertha seit 1974 als gern gelesener Autor in Erscheinung.
ZVS freut sich über diesen Brückenschlag zwischen den nördlichsten Gefilden unseres Kulturraumes und der Südvenn-Region. ZVS war sich schon immer bewusst, dass den Geschichtsfreunden und geschätzten Kollegen der Göhltalvereinigung mit Alfred Bertha ein erfolgversprechender Transfer gelungen ist. Und was im aktuellen Fußballgeschäft so oft lebhaft kommentiert wird, hat sich auch hier bewahrheitet: Es hat sich die Multifunktionalität dieses einmaligen Süd-Nord-Transfers in aller Deutlichkeit gezeigt.
Alfred Bertha hat der heimatgeschichtlichen Forschung im Lande zwischen Venn und Schneifel wertvolle Impulse gegeben. Die Beiträge, die er für ZVS schrieb, sind das Ergebnis emsigen Archivstudiums in Lüttich, Eupen, Aachen, Düsseldorf, Koblenz, Luxemburg… Alfred Bertha konnte immer wieder mit neuen Ergebnissen und mit bisher unbekannten Erkenntnissen zu kleinen und großen Ereignissen unserer Regionalgeschichte aufwarten. Das ist ja auch das Wesen der geschichtlichen Aufarbeitung, wie sie in unseren Geschichtsvereinen betrieben werden soll: Aus den Primärquellen, aus den Archiven schöpfen und das Ergebnis der Öffentlichkeit in “menschlicher Sprache” vermitteln, wie man so zu sagen pflegt.
Auch in manchen Einzelveröffentlichungen tritt diese Suche in den Vordergrund. Ich verweise nur auf die hervorragende Dorfchronik der Ortschaft Born (im Jahre 2006 erschienen), der bereits eine Monografie des Autors über seinen Heimatort voraufging. Die “Historischen Notizen zu Dorf und Pfarre Born”, erschienen 1983, sind was Recherche und Interpretation der Fakten angeht, erneut ein Paradebeispiel für die Erstellung einer wertvollen Dorfchronik, aus der in hundert Jahren mit Sicherheit noch zitiert werden wird – dabei denke ich zum Beispiel an die Problematik der mittelalterlichen Ersterwähnung Borns und an die archivalischen Nachrichten zum 15. und 16. Jahrhundert im Hof von Amel.
Dasgleiche gilt für die 1987 in der geschichtlichen Dokumentation des Hofgebiets von Amel erschienene “Pfarrgeschichte Amels von der Französischen Revolution bis heute”. Auch die 2004 veröffentlichte Studie über die “Rechnungsbücher der St.Vither Rentmeister im 15. Jahrhundert” ist eine wertvolle Erschließung bisher unbekannt gebliebenen Quellenmaterials, die bereits zu weiteren Forschungen angeregt hat.
Vergessen wir nicht die 1974 bereits veröffentlichte und als Sonderdruck erschienene Publikation “Aus Glockentürmen in die Schmelzöfen – Vom Schicksal unserer Kirchenglocken”, eine Studie, die das vermessene, unselige Vernichtungswerk von Menschen an den ehernen Zeugen Eifeler Kunst und Volksfrömmigkeit anprangert und an Hand von Zeitdokumenten den Werdegang der Glocken während der Kriegsjahre beschreibt.

Wertung

Werte Festversammlung! Lieber Alfred Bertha!

Es ist für den Laudator, der selber im regional-geschichtlichen Publikationskarusell mitdreht, keine leichte Aufgabe, das vielseitige Schaffen eines hervorragenden Heimatforschers und langjährigen Freundes zu bewerten. Die folgenden Ausführungen sollen deshalb auch nicht als eine Bewertung angesehen werden, sondern eher als eine Paraphrase heimatgeschichtlichen Schaffens. Hier treten m.E.  zwei Elemente hervor:
Zunächst die Aufwertung der Heimatgeschichte: Alfred Bertha hat auf den beiden geografischen Schienen seines Schaffens heimatgeschichtliche Akzente gesetzt. Er hat unbekannte Räume unserer Vergangenheit betreten. Er hat mit wissenschaftlicher Akribie neue geschichtliche Fakten entdeckt, bekannte neubewertet und das Ergebnis einem breiten Publikum zugänglich gemacht. So wird das Studium der heimatlichen Vergangenheit zu einer spannenden Erkundungsfahrt, zu einer Reise in eine Zeit, wo man anders lebte, anders liebte, anders starb.
Alfred Bertha hat manch’ Neues entdeckt und Vieles vor dem Verschwinden, vor dem Vergessen bewahrt. Das Vergangene wird bei Alfred Bertha wieder zu lebendiger Gegenwart. So hat er manchen “flüchtigen Schatten” in unserer Regionalgeschichte gebannt, manche vorbeieilende Figur auf dem Laufsteg der Zeit festgehalten.
Gerade im Göhltal, an dieser sensiblen Nahtstelle zwischen Romania und Germania, hat der neue Heckingschildträger stets der geschichtlichen Objektivität gedient, besonders wenn Geschichte unreflektiert dazu benutzt wurde, den jeweiligen Besitzstand zu legitimieren, und wenn – um mit Theodor Heuß zu sprechen – wenn viele naiv glauben, “des Herrgotts bester Einfall zu sein”.

Werte Festversammlung!
Geschichte ist das Gedächtnis der Menschheit. Sie ist die Quelle der Erfahrungen, die der Mensch braucht. An dieser Stelle habe ich schon mal auf diesen Lehrspruch hingewiesen, der eigentlich wie ein anspruchsloser Gemeinplatz klingt. Dennoch möchte ich denselben, wenn Sie es gestatten, nochmals kurz umschreiben:
Wenn das Geschehene vergessen ist, wenn von dem Geschehenen keine materiellen Spuren mehr vorhanden sind, und wenn das Geschehene auch in der kollektiven Erinnerung ausgelöscht ist, dann hat das Ereignis nicht stattgefunden. Es hat in unserem historischen Verständnis einfach nicht existiert; es ist geschichtslos geworden. Ich klammere natürlich jedes metaphysische Spekulieren auf diesem Gebiet aus.
Das wohl Schlimmste, das einem Gedächtnis passieren kann, ist das Vergessen. Das gilt auch für das kollektive Gedächtnis. Tritt dieser Erinnerungsschwund ein, dann kommt es anfänglich bestenfalls noch zu verschwommenen “Nachträgen”, zu unkontrollierbaren Überlieferungen, zu dunklen Tradierungen, zu Sagen und Legenden, die vielleicht noch den Volkskundler bewegen – mit denen aber der Historiker nicht mehr viel anzufangen weiß. Schlussendlich führen aber auch diese Erinnerungs¬fragmente unweigerlich in die Geschichtslosigkeit.
Das Vergangene vor dem kollektiven Gedächtnisschwund bewahren:  Das ist das große Verdienst der Geschichte im allgemeinen und der Heimatgeschichte im besondern; und das soll auch an erster Stelle in dieser Paraphrase der heimatkundlichen Hinterlassenschaft Alfred Berthas hervorgehoben werden.
Das zweite Element ist der bereits angesprochene Heimatbegriff.
Alfred Bertha gehört einer Generation an, die den wechselvollen Werdegang des Wortes Heimat in den letzten Jahrzehnten mitverfolgen und beobachten konnte. Es ist die Geschichte eines Begriffs, der schweren Belastungen und Beschädigungen ausgesetzt war und dem schließlich eine glückliche Rückehr zu einem positiveren Verständnis geglückt ist. Da gab es kurz nach 1945 noch die bekannte Aussage von Berthold Brecht: “Heimat gehört zu den Unworten. Nach dem Nationalsozialismus und Faschismus ist ‘Heimat’ ein Wort, das aus dem deutschen Sprachgebrauch zu tilgen ist”.
Brecht hatte vielleicht Recht im Blick auf die Geschichte, aber er hatte unrecht im Blick auf die Zukunft. Der Begriff war nicht zu tilgen. Da gab es zu dem Zeitpunkt die Millionen Heimatvertriebenen, die dem Wort einen schmerz¬haften, konkreten Hintergrund gaben. Das Wort Heimat war derart in Sprache und Gemüt, im Alltag und in der Kommunikation der Menschen der Nach¬kriegs¬zeit verankert, dass es nicht verdrängt werden konnte. Heimat wurde in Volksliedern und Schlagern besungen und es gab die vielen Heimatfilme. Alle bekannten deutschen Schauspieler der Nachkriegszeit haben in den großen Heimatfilmen mitgewirkt, von “A” bis “Z”, von Hans Albers bis Zarah Leander.
Es zeigte sich ferner, dass der Begriff  “Heimat” trotz seiner politischen Hypothek in unserem Grenzraum eine besondere Färbung hatte und eine sozio-kulturelle Interpretation erhielt, die anscheinend wichtig für unseren Seelenhaushalt war.
Durch seinen Einsatz in der geschichtlichen Aufarbeitung und in der Kulturpflege seines Handlungsraumes hat Alfred Bertha mit dazu beigetragen, dem Heimatbegriff einen neuen Stellenwert zu geben, der auch einer kritischen Hinterfragung Stand hält. Heimat wird als soziales Handlungsfeld betrachtet, wo man Verantwortung übernimmt.
Die Heimatgeschichte ist in dieser Betrachtungsweise kein Nostalgikum, keine romantische Einbettung in unsere Vergangenheit, sondern ein Mittel, um die eigene Persönlichkeit zu erkennen und unser Umfeld zu begreifen. Ohne geschichtliches Bewusstsein gleichen wir Peter Schlemihl aus Chamissos bekannter Erzählung, dem Mann, der seinen Schatten verlor. Die Kenntnis der Vergangenheit festigt nicht nur unser Selbstbewusstsein und unsere Selbstachtung. Es schärft auch unseren Blick für mehr Auf¬geschlossenheit und Toleranz, beides Tugenden, die gerade in einer Grenzlandschaft geübt werden sollen.
Natürlich offenbart sich hier die so oft bemühte “regionale Identität”; ein Begriff, der in unserer Zeit der “Globalisierung”, der Überstaatlichkeit und postnationaler Gedankengänge besonders attraktiv geworden ist. In der “regionalen Identität” schwingt in der Tat ein gewaltiges Lebensgefühl mit, denn in ihr entdeckt der dafür empfängliche Mensch vielleicht ein Stück jenes Paradieses, das er einmal verloren hat. Vielleicht gelingt es dann dem Menschen, auf der Suche nach der Heimat, zumindest bis zur Eingangspforte dieses verlorenen Paradieses vorzudringen. Und auf dem Weg dahin begleitet uns Alfred Bertha – vielleicht mit dem eingangs zitierten Spruch des Psalmisten: “Auf  schönem Land fiel mir mein Anteil zu. Ja, mein Erbe gefällt mir gut!”
Empfange meinen herzlichen Glückwunsch zu der Verleihung des Heckingschildes, lieber Alfred Bertha!

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