Vortrag von Hubert Jenniges: Belgiens schmale Gratwanderung

Abgelegt in Allgemein, Geschichtliche Themen, Veranstaltungen

Geschrieben am 20.09.2011

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In Belgien rumort es. Seit seiner Staatsgründung ist das Land einem steten Wechsel unterworfen. Motor dieser Entwicklung ist der mehrheitliche flämische Bevölkerungsteil, der bei der Staatsgründung weder politische noch kulturelle Rechte besaß. Die Gründer des Staates, die frankophone Bourgeoisie, standen in der Folge einer doppelten Herausforderung gegenüber: eine Gesellschaftsklasse und eine Sprache konnten den zunehmenden flämischen Forderungen nicht standhalten. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.Ein nächstes Ziel ist der weitere Umbau des belgischen Zentralstaates zu einer Konföderation. Dies könnte aber auch zum Zerfall des Königreichs führen. Auch die DG ist in hohem Maße von diesen Entwicklungen betroffen und es stellt sich die Frage, welchen Standort sie im neuen Belgien erhalten wird.

ZVS-Ehrenpräsident Hubert Jenniges analysiert diese Fragen in einem Vortrag, den wir mit den Kollegen vom Geschichtsverein „Prümer Land“ am Freitag, 23. September 2011, 20 Uhr, im Casino der Prümer Kreissparkasse veranstalteten.

 

Hubert Jenniges
Belgiens schmale Gratwanderung nach einer Konföderation

Meine Damen und Herren,
werte Freunde aus Prüm und St.Vith!

Heute, am 23. September, feiert das Königreich Belgien einen Weltrekord. Morgen und in den nächsten Tagen wird dieses “Meisterstück” weiter ausgebaut. Es ist ein sonderbarer Rekord: 467 Tage Regierungslosigkeit. Er bringt Belgien einsam an die Spitze der demokratisch geführten Länder unseres Planeten.
Gewählt wurde in dem fast 11 Millionen Einwohner zählenden Land am 13. Juni 2010. Von dann bis heute trennen uns 467 Tage – morgen werden es 468 sein.
Ein Land ohne Regierung! Ein Staat ohne Führung!  Wie ist das möglich? werden Sie fragen. Wie kann ein Land das durchhalten? Wie kann ein Staat gleich einem ruderlosen Schiff durch das Meer der Zeiten dahinsegeln?
Diese Frage, meine Damen und Herren, verdient vorab eine Antwort. Denn sie legt die Grundlagen eines ungewöhnlichen Staatsgebildes offen.
Die “Regierungslosigkeit” in Belgien muss relativiert werden.
-Zunächst weil die belgische Regierungskrise keine gewöhnliche Krise ist. wie wir sie in anderen “normalen” europäischen Ländern bei einem politischen Übergang antreffen. Das Ziel der pausenlosen Verhandlungen, die von Krisenmanagern der verschiedensten politischer “Couleur” seit 467 Tagen geführt werden, besteht nicht nur in der Bildung einer klassischen Koalitionsregierung mit einem finanziellen, ökonomischen, gesellschaftspolitischen und parlamentarisch gestützten Programm; es geht vor allem um eine fundamentale Neugestaltung des Staatswesens für die 6,3 Millionen Flamen, für die 3,5 Millionen Wallonen, die 1,2 Millionen Bürger des hauptstädtischen Gebiets Brüssel und für die 76.000 Einwohner deutscher Sprache, die im belgischen Vielvölkerstaat einen Platz haben.
Die Verhandlungen zur Bildung einer neuen Regierung werden nicht so sehr von ideologischen Grundsätzen und Gegensätzen oder einem “Rechts-Links-Denken” dirigiert. Es geht in erster Linie um die Architektur, um den künftigen Aufbau des belgischen Staates.
Neben der Regierungskrise wuchert also eine Staatskrise, deren Lösung die Zukunft Belgiens, die Rolle des Königshauses, die Gestaltung der Regionen und die zwischengemeinschaftlichen Beziehungen der Volksgruppen, kurzum die vitalen Elemente des belgischen Staatswesens, umfassen.
-Ein zweiter Punkt für eine Relativierung der aktuellen “belgischen Zustände” führt uns zu der Erkenntnis, dass das Königreich trotz des andauernden Krisenzustandes nicht so “führungslos” ist, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte. Es gibt immer noch eine “geschäftsführende” Regierung, d. h. die Führungsriege der vorigen Regierungsperiode bleibt so lange im Amt, bis ein Nachfolgekabinett antreten kann. Diese geschäftsführende Regierung unter Yves Leteme kann zwar nur in einem engen Rahmen agieren, sie kann “den Laden offen halten”, sie muss aber ihre Initiativen auf das Wesentliche beschränken, da sie nicht vom Parlament gestützt wird. Immerhin: Der Laden läuft. Die zwingenden Europaverpflichtungen in puncto Haushalt und Abbau der Staatsschuld werden eingehalten, so dass Belgiens Wirtschaft ohne negative Bewertungen vor den gefürchteten internationalen “Ranking-Büros” in diesem Sommer bestehen konnte.
-Und dann gibt es noch ein drittes wichtiges Relativierungselement, und zwar Belgiens einzigartige föderalistische Regionalstruktur. Die Gemeinschafts-und Regionalregierungen verfügen innerhalb ihrer Territorien über eine breite, weitgehende Souveränität: im sozial-politischen und im kulturellen Bereich. Auch hier läuft der Laden ohne Zutun der Zentralregierung (oder der belgischen Bundesregierung) weiter.
Damit bleibe ich Ihnen aber noch immer die Frage schuldig: Worauf ist denn eigentlich dieser hemmende und schleppende Gang zur Bildung einer neuen Regierung zurückzuführen? Mit der Antwort auf diese zentrale Frage nähern wir uns der “schmalen Gratwanderung Belgiens”, die im Titel dieses Vortrags angedeutet wird. Und diese Gratwanderung trifft den Kern des belgischen Dilemmas: Kann das Königreich Belgien als Staat weiterbestehen – oder steht die Auflösung vor der Tür? Das ist die Gretchenfrage, deren komplexe Antwortelemente ich hier einer Analyse unterziehen will.
Es wird ein sehr schwieriger Versuch sein. Derjenige, der nicht tagtäglich mit der “belgischen Realität” konfrontiert  wird, muss schon groβe Mühe aufbringen, dies alles zu begreifen. Er muss in die belgische Vergangenheit einsteigen, um die irrationalen Widersprüche eines “Staatswesens” zu entdecken, das wie kein anderes aus der Geschichte des Landes schöpft und dessen Volksgruppen deswegen so emotional reagieren.
Um es gleich vorweg zu nehmen:  Ich kann Ihnen keine “belgische” Lösung anbieten. Eine solche Lösung wäre mit der “Quadratur des Kreises” vergleichbar; eine Lösung wäre politische Spitzentechnologie, über die ich nicht verfüge.  Und wenn ich es könnte, hätte ich die berühmte “Millionenfrage” gewonnen. Dann stände ich wahrscheinlich jetzt nicht hier vor Ihnen – möglicherweise würde ich heute Abend in Schloss Laeken mit dem König soupieren!
Was ich wohl kann, ist Ursachenforschung betreiben, d.h. versuchen, die Frage zu beantworten, wie und warum es in Belgien soweit kommen konnte.
Die Antwort darauf muss von einer zweifachen Zeitperspektive ausgehen: einerseits von historischen Erwägungen, die weit in die chronologische Tiefe greifen und anderseits aus einer aktuellen Betrachtungsweise.
Wir müssen daher zunächst den Lauf der “belgischen Entwicklung” in einen breiteren Rahmen setzen. Wir setzen die chronologische Tiefe 1830 an, als Belgien ein unabhängiger Staat wurde. Dieser Rückblick ist nötig, um das wacklige Gefüge zu begreifen, das heute Belgien kennzeichnet.
Am 25. August 1830 gelangte im Brüsseler Opernhaus “La Monnaie” die Oper “Die Stumme von Portici” des damaligen französischen Starkomponisten Auber zur Aufführung. Nach der Freiheitsarie strömten die Besucher auf die Straße und riefen: “Es lebe Frankreich, es lebe die Freiheit”. Die Kundgebung entsprang einer seit Monaten herrschenden emotionsgeladenen Stimmung gegen das holländische Regime von König Willem I. Sie war die Fernwirkung der Pariser Julirevolution und die Initialzündung für einer breiteren Revolte gegen den gesamtniederländischen Staat – ein Staat, der 1815 auf dem “Wiener Kongress” mit groβen Erwartungen ins Leben gerufen worden war.
Wir erinnern uns: In Wien war 1815 ein neuer groβniederländischer Staat geboren worden, der die 19 holländischen und süd-niederländischen, die heutigen belgischen Provinzen, umfasste. Diese “Vereinigten Niederlande” waren gegen Frankreich entstanden. Es war ein mehrheitlich niederländischsprachiges Gebilde mit unterschiedlicher Kultur, mit einem aktiven frankophonen Bevölkerungsteil in den wallonischen Provinzen und einer deutschen Volksgruppe in Luxemburg. Der Aufstand richtete sich gegen das unglücklich agierende holländische System unter König Willem; vorallem gegen den Zentralismus und Bürokratismus der holländischen Verwaltung und gegen die autoritäre Kirchen-und Schulpolitik des protestantischen Königs. Die katholischen Südprovinzen hatten nicht nur eine andere religiöse Prägung als der holländische Norden, auch ihre ökonomische Entwicklung war seit dem 16. Jahrhundert verschiedene Wege gegangen. Der groß-niederländische Staat, das Experiment von 1815, das England im Einklang mit Metternich gegen Frankreich konzipiert hatte, war deutlich misslungen.
Im Grunde war die belgische  Revolution von 1830 eine Sezession, eine illegale Abtrennung, eine interne, regionale Revolte, die nur deswegen erfolgreich in einer Staatsgründung mündete, weil auch das internationale Umfeld für eine solche “belgische Lösung”  günstig war. Frankreich war unter Talleyrand erstarkt und am Zerfall des niederländischen Staates in höchstem Maβe interessiert, der, wie bereits gesagt, 1815 als Barrieremacht gegen Paris geschaffen worden war. Die übrigen kontinental-europäischen Mächte waren geschwächt: Preußen war zwar die protestantische Schutzmacht des niederländischen Königreichs, fürchtete jedoch ein Überschwappen der revolutionären Bewegung auf die eigenen Völker. Zudem gab es zeitgleich den polnischen Aufstand, der an Preußens Ostgrenzen mit Besorgnis verfolgt wurde. Blieb also England, dem in der belgischen Frage eine Schlüsselrolle zufiel. In London hatten sich zu dem Zeitpunkt liberale Parlamentsreformer durchgesetzt, die der neuen belgischen Staatsgründung auf dem Kontinent abwartend  gegenüberstanden.
Das Ergebnis dieser politischen Konstellation war ein Kompromiss, der im sog. “Londoner Protokoll” festgehalten wurde. Er knüpfte die Anerkennung eines neuen Staatsgebildes unter dem Namen “Belgien” an bestimmte Bedingungen: an den Verzicht auf einen Anschluss an Frankreich, an die Wahrung der Neutralität, an die Errichtung einer Monarchie und an eine Grenzfixierung, wonach das ehemalige Herzogtum Luxemburg beim Deutschen Bund unter niederländischer Oberhoheit verbleiben sollte – die mehrheitlich frankophonen westlichen Teile Luxemburgs wurden Belgien zugeschlagen; die alte Provinz Limburg wurde in einen belgischen und niederländischen Teil aufgespalten. Die Durchsetzung dieser Bestimmungen akzeptierte Willem I. erst neun Jahre später, 1839, nach heftigem, selbst militärischem Druck der Großmächte England und Frankreich.
So wurde Belgien geboren – es war schon eine recht eigenartige Geburtsstunde, weil die Staatserhebung nicht nach dem ausgesprochen eigenen Willen der Bevölkerung, sondern nur nach Zustimmung zweier Großmächte geschehen konnte.
Man darf nicht vergessen: Die belgische Revolutionsbewegung von 1830 wollte im Grunde keine neue Staatsgründung; sie richtete sich vornehmlich gegen das autoritäre Regime der Holländer und gegen die reiche “Bourgeoisie” im eigenen Lande, wie auch die zahlreichen Plünderungen in Brüssel, Lüttich und Verviers in den Septembertagen von 1830 zeigten. In den flämischen Städten wie Antwerpen, Gent, Mecheln und Löwen blieb es auffallend ruhig.
Die Gründung des neuen belgischen Staats konnte aber einen überraschend schnellen internationalen Erfolg verzeichnen, was zusätzlich auch der glücklichen Wahl des ersten Königs zuzuschreiben war, des aus dem Hause Sachsen-Coburg-Saalfeld stammenden Prinzen Leopold. Er war international erfahren und ein geschickter Diplomat. Nach dem Tode seiner ersten Gemahlin, einer Tochter des englischen Königs, heiratete er 1832 in Compiègne mit großem Pomp in zweiter Ehe Louise-Marie, die Tochter des französischen Königs Louis-Philippe.
Leopold – er wurde Leopold I. – war der richtige Mann an der richtigen Stelle: Er war Deutscher in englischem Dienst und mit Frankreich liiert: Ein besseres Profil hätte ein anderer Anwärter für den belgischen Königsthron nicht vorweisen können.
Der neu entstandene Staat konnte nur französischsprachig sein. Die Urheber der Brüsseler Revolte waren ja alle nach dem groβen Verbündeten Frankreich orientiert. Die Losung der Staatsgründer lautete: “La Belgique sera romane, ou ne sera pas”. Eine andere sprachliche Orientierung wäre übrigens in der damaligen Konstellation undenkbar gewesen; sie hätte auch das kurzfristige Ende des jungen Staates bedeutet.
Belgien war unter Führung einer dynamischen frankophonen Bourgeoisie angetreten, die in dem neuen Staatsgebilde praktisch über alle Machthebel verfügte. Diese Oligarchie der Reichen (knapp 200 Familien) dirigierte den ökonomischen Fortschritt, der Belgien zum Pionierland der frühen Industrialisierung in Europa bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts machte: 1834 fuhr die erste Eisenbahn auf dem Kontinent zwischen Brüssel und Mecheln. Eine moderne Schwerindustrie prägte das Maastal und sicherte einen bisher ungekannten Wohlstand. Das Kapital befand sich jedoch ausschlieβlich in den Händen dieser mächtigen, liberalen frankophonen Bourgeoisie. Wohl noch nie in der Geschichte eines modernen Staates waren die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen in solch prominenter Weise in Regierung und Staatsapparat, ja selbst in der Kirche vertreten. Auch in Flandern, das damals 2 200 000 Einwohner zählte, hatte ausschlieβlich ein frankophones Wirtschaftsbürgertum das Sagen. Die Hebel der  ökonomischen Macht, der politischen Gestaltung und der Volksbildung lagen in den Händen einer dynamischen, frankophonen Elite, die höchstens 2 % der Gesamtbevölkerung ausmachte. Dieses frankophone Establishment gab sich eine überaus freiheitliche und weltoffene Konstitution, die in der Folge als Modell anderer Verfassungen in Europa galt.
Das demokratische Defizit war jedoch flagrant: Nur 44.000 Wahlmänner bestimmten die belgische “Volksvertretung”.
Somit waren allerdings die künftigen Probleme des belgischen Staates vorprogrammiert. Als Produkt der frankophonen Bourgeoisie stand das junge Königreich in der Folge einer doppelten Herausforderung gegenüber:
1. Einer dominierende Gesellschaftsklasse und 2. einer Sprache, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht verstanden wurde.
Beide, die herrschende Gesellschaftsklasse und die französischsprachige Ausprägung, konnten in der Folge dem zunehmenden Druck der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung in Flandern nicht standhalten. Hinzu kam der ungesunde zentralistische Aufbau des Landes nach dem Vorbild Frankreichs, was sich erfahrenerweise in der Folge als untaugliches Modell erwies und später das Gebilde Belgien als solches in Frage stellen sollte.
So gesehen war die “nation belge”, die sich gerne als eine innerlich gefestigte ausgab, eine unvollendete Nationsbildung, denn sie betraf nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, und zwar die reiche französischsprachige Bourgeoisie. Sie war in sozialer, wirtschaftlicher, sprachlicher und kultureller Hinsicht eine einseitige Angelegenheit und somit mittelfristig zur Nachbesserung gezwungen. Die Sprachgrenze im Königreich Belgien war bis Mitte des 20. Jahrhunderts in erster Linie eine soziale Grenze. Fast 400.000 Flamen verlieβen im 19. Jahrhundert ihren Heimatort und siedelten sich in den industriestarken Becken Walloniens an: in Lüttich, in Charleroi und La Louvière, wo sie bereits nach der ersten Generation ihre Sprache aufgaben und französierten.
Flandern war arm und hatte einen ungeheuren Bildungsrückstand.
So kam es, dass die Gegenkräfte in Flandern nur langsam zum Zuge kamen.
Die “flämische Bewegung” war in ihren Anfängen ein Vornehmen einzelner Vertreter des gebildeten Bürgertums, die zu ihren sprachlichen Ursprüngen zurückkehren wollten. Bereits in den 1840er Jahre hatte es eine Petitionsbewegung mit 100.000 Unterschriften zur Gleichstellung des Niederländischen mit dem Französischen in der Staatsverwaltung gegeben. Das erste “flämische Sprachmanifest” stammt aus dem Jahre 1856. Maßgeblichen Anteil hatten an dieser Entwicklung unterschiedlich orientierte Kreise, die heute noch als rege kulturelle Impulsträger in Erscheinung treten. Es ging ihnen lediglich um kulturelle Forderungen zur Wahrung der eigenen Sprache. Der Staat Belgien wurde nicht in Frage gestellt.  Erste zaghafte politische Nachbesserungen gab es in den 1850-1860er Jahren, als im Justizwesen und in einigen untergeordneten Verwaltungsangelegenheiten die niederländsiche Sprache als zweitrangiges Kommunikationsmittel Eingang fand. Erst 1898 wurde das Niederländische als Gesetzessprache anerkannt, ohne jedoch den juridischen Stellenwert des Französischen zu erhalten. Und damit begann in Flandern eine konsequente “sprachlich-kulturelle Rückgewinnung”, die sich aber nicht damit zufrieden gab, nur eine Sprachbewegung zu sein. Die flämische Bewegung verstand sich recht schnell als eine “totale Bewegung”, weil sie alle gesellschaftlichen Bereiche erfasste: das intellektuelle und kulturelle Leben sowie die wirtschaftliche und soziale Entfaltung Flanderns. 1910 wurde das Niederländsiche in den Mitelschulen, allerdings auf freiwilliger Basis, eingeführt. Die Forderung nach flämischen Einheiten im Heer wurde allerdings abgelehnt – es war dies ein Kapitalfehler, denn in den Schützengräben Flanderns 1914-18 entstand die sogenannte “Flämische Frontbewegung”, die nach Kriegsende 1920 eine starke politische Kraft wurde. Die Stärke des flämischen Emanzipationsbestrebens konnte sich auf eine Vielzahl para-politischer Organisationen stützen; sie bilden heute noch das Rückgrat der “flämischen Bewegung”.  Sie halten auch die historische Erinnerung an den flämischen Kampf der letzten 150 Jahre wach. Dies macht das Flamentum so allergisch gegenüber den Forderungen der Französischsprachigen. Diese Haltung ist in der heutigen Auseinandersetzung noch stets ein wichtiges Element. Das muss man bei der Beurteilung der aktuellen Situation wissen: Es erklärt die für Auβenstehende zuweilen irrational anmutende Entwicklung in Flandern.
Gegenreaktionen auf wallonisch-frankophoner Seite blieben im 19. und 20. Jahrhundert nicht aus. Sie kamen stets dann zum Tragen, wenn die Vorherrschaft der Frankophonen bedroht oder beeinträchtigt schien. Unter vielen Beispielen sei die “Niederlandisierung” der Universität Gent hervorgehoben – eine Maβnahme, die eigentlich auf eine Verfügung der deutschen Besatzungsmacht 1914-18 zurückging, und die nach 1919 nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Bekannt ist der “Wallonische Kongress” (Congrès Wallon) in Lüttich im Jahre 1905 mit einem deutlichen Bekenntnis zu einer administrativen Spaltung des Landes.
Bekannt, aber auch in seiner Wirkung überbewertet, ist der “Offene Brief” des wallonischen Sozialisten Jules Destrée an den König im Jahre 1911, wo es wörtlich heiβt : “Sire, ich muss Ihnen eine groβe erschreckende Wahrheit mitteilen: Es gibt keine Belgier, es gibt nur Wallonen und Flamen. Sire, Sie herrschen über zwei Völker”.
Diese ungewöhnliche Aussage über den “Zweivölkerstaat Belgien” wird bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit herangezogen, um die politische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im wallonischen Landesteil zu erklären. In der Tat: Es entwickelte sich in den Industriebecken der Wallonie und in den Städten eine linke, syndikalistische und liberale Strömung, die im Gegensatz zu Flandern eine Form der Föderalisierung, eine administrative Aufspaltung Belgiens, forderte, allerdings unter der einseitigen Wahrung der französischsprachigen Rechte in den flämischen Landesteilen. Belgien sollte im Grunde ein französischsprachiges Land bleiben mit dem Flämisch-Niederländischen als untergeordnete Sprache. Es war dies eine Einstellung, die heute in gewissen frankophonen Kreisen im Unterbewusstsein noch weiter lebt, und die u.a. die eben angesprochene “allergische Feinfühligkeit” der Flamen als Gegenreaktion bestimmt.
Noch deutlicher wurde diese Haltung 1932 in der mehrheitlichen Ablehnung eines Vorschlags, der darauf abzielte eine allgemeine Zweisprachigkeit in Belgien einzuführen. Man befürchtete wallonischerseits, dass eine solche Maβnahme zu einem flämischen Übergewicht in der Staatsverwaltung führen könne, da Flandern demografisch die Mehrheit hatte, und weil es in diesem “einsprachig hochgezüchteten Lande” nicht genügend Französischsprachige mit niederländischen Sprachkenntnissen gab; aber auch aus ideologischen Gründen: Die freidenkerischen Liberalen und Sozialisten lehnten – selbst in Flandern – das Zweisprachigkeitsprinzip ab, um nicht durch ein mehrheitlich katholisches Flandern dominiert zu werden.
Hierzu sei bemerkt, dass Belgien bis in die 70er – 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts ein Staat war, wo Katholizismus, Kirche und Lebensführung stets sehr eng mit der Politik verwoben waren, bis die “Säkularisierung des Zeitgeistes”, die “Entklerikalisierung”, in aller Schärfe einsetzte. Diese ungesunde “Verfilzung” dürfte einer der Gründe sein für die Tiefschläge sein, die Belgiens Katholizismus, in der Religionspraxis, in Politik und Gesellschaft in hohem Maβe in den letzten vier Jahrzehnten hinnehmen musste. Die Symbiose “Religion, Gesellschaft und Politik” war ein in höchstem Maβe ausgeprägtes Phänomen, das den Schulkampf in Belgien 1954-58 bestimmte, das sich stets die Monarchie zu Nutzen machte, das selbst in der Spaltung der Universität Löwen noch fassbar war, die ich gleich noch kurz ansprechen werde, und das vor allem in der sogen. “Säulenbildung” zum Ausdruck kam. Das heiβt, dass die kirchlichen oder klerikalen Vertretungen in allen öffentlichen und politischen Organisationen einen breiten Platz erhielten und auch das partei-politische Feld beherrschten.
Zurück zu den flämischen Autonomiebestrebungen, die zwar von der Basis der Kirche getragen wurden, vom kirchlichen Establishment, von der obersten Kirchenführung, jedoch argwöhnisch beobachtet wurde; zumal die flämischen Autonomisten den belgischen Rahmen zu sprengen drohten. Und dieser Rahmen war heilig; er war eng mit der Vorstellung einer sogenannten belgischen Nation, mit dem Königshaus und der katholischen Kirche verbunden.
Zwei Mal in seiner Geschichte wurde das militante Flamentum in die Schranken verwiesen: Die beiden Weltkriege hemmten  die Bewegung, als die Kollaboration mit dem deutschen Besetzer auch ideologisch  weit über die gesteckten Ziele hinausschoss und die Autonomiewerdung um viele Jahre zurückwarf. Die flämische Kollaboration 1940-44 hatte mehrere Gesichter: Sie war gewiss national-sozialistisch gefärbt, sie schöpfte auch aus einem virulenten anti-bolschewistischen Gefühl, sie verharrte aber mehrheitlich auf dem Streben nach flämischer Unabhängigkeit, das die Flamen selbst mit einem “Pakt mit dem Teufel” erreichen wollten. Der Kampf gegen den Bolschewismus erklärt auch die ungewöhnlichen Aufrufe von Kaplänen und Pfarrern an Flanderns Jugend, mit dem Nazi-Deutschland an der Ostfront zu kämpfen. Die Kollaboration in Wallonien gründete ihrerseits auf faschistischem Gedankengut des Rexismus von Leon Degrelle, einer Bewegung, die 1935 aus der katholischen Jugendorganisation “Christus Rex” hervorgegangen war und sich am Vorbild des italienischen Faschismus orientierte..
Flanderns Kollaboration entsprang also anderen Wurzeln. Sie war im Kampf nach Gleichberechtigung und Selbständigkeit der Flamen eine unrühmliche Entgleisung, die bis heute nachwirkt.
Belgiens Höhen und Tiefen als afrikanische Kolonialmacht und Belgiens lobenswerte und hervorragende Vorreiterrolle in der supranationalen Politik (Europa und NATO) konnten dieses unbändige Streben der Flamen nicht beeinträchtigen. Die erzwungene Aussiedlung der französischsprachigen Fakultäten der Katholischen Universität Löwen (1968) entsprach dem totalen Bild, das die flämische Emanzipation kennzeichnete. Es war ein Ereignis, das einen unreparierbaren Bruch zwischen den Volksgemeinschaften bewirkt hat und zum Auslöser einer Spaltung der traditionellen  politischen Parteien wurde. Machen wir deshalb kurz bei der Löwener Universitätsfrage Halt:
Die politische und gesellschaftliche Kontestatiom von 1968 verlief in Belgien auf völlig anderen Schienen als in Deutschland und Frankreich. Cohn-Bendith, Dutschke und andere Vordenker der 68er- Revolte fanden zwar in Studentenkreisen heftige Verfechter und Nachahmer, doch entlud sich der Studenten-Protest in Flandern auf die sprachpolitischen Forderungen, die die Aussiedlung der französichsprachigen Fakultäten der Katholischen Universität Löwen betrafen. Der Gesetzgeber hatte 1963 mit der Einteilung des Landes in Sprachgebiete den Abbau des belgischen Zentralstaates vorprogrammiert und – dies ist das Exklusive an dieser Gesetzgebung – das Prinzip der territorialen Einsprachigkeit in Verwaltung und Unterricht festgelegt. Das heißt, dass in Flandern ausschließlich das Niederländische, in der Wallonie das Französische, in der deutschen Sprachregion das Deutsche und in dem hauptstädtischen Gebiet Brüssel Niederländisch und Französisch verwendet werden sollen.
Nach diesem Prinzip der “territorialen Einsprachigkeit” zeigte sich, dass die französischsprachigen Fakultäten in der alten, Universitätsstadt Löwen im flämischen Landesteil, verfassungsrechtlich gesehen, illegal waren. Die flämische Forderung nach einer Auslagerung der Frankophonen aus Löwen führte zu einem erbitterten Kampf, der 1968 in mehreren flämischen Protestmärschen nach Brüssel und in heftigen Studentenkrawallen in Löwen eine ungewöhnliche Schärfe erhielt. “Leuven Vlaams”, so der Slogan der monatelangen Proteste und Krawalle, spaltete Politik, Gesellschaft und Kirche.
Die “Löwener Frage” bewirkte einen Bruch im belgischen Staat, Uneinigkeit innerhalb des belgischen Episkopats, Verunsicherung in der Bevölkerung und eine unüberbrückbare und irreparabele Trennungslinie.
Meine Damen und Herren!
Die Flamen haben denn auch, schon wegen ihrer numerischen Stärke, besonders nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (1920), die Positionen erkämpft, die in verschiedenen Verfassungsreformen (seit 1970 sind es sechs!) den heutigen Föderalstaat geformt haben. Hinzu kam die ökonomische Stärke eines Landesteils, der im Gegensatz zum wirtschaftlichen Niedergang in Wallonien, den Anspruch auf eine selbstbewusste Selbstverwaltung erheben konnte.
180 Jahre nach der belgischen Staatsgründung sind die Konturen einer “flämischen Nation” gezeichnet.  Ist damit das Ziel der flämischen Autonomiewerdung erreicht?
Nun müssen wir die jüngste Vergangenheit bemühen. Und das ist die eingangs angekündigte, auf die Aktualität aufgebaute kurze Zeitretrospektive, die wir um das Jahr 2003 ansetzen, als die bis dahin stärkste flämische Partei, die Christdemokraten, ein Bündnis mit der jungen nationalistischen Partei, der “neuen flämischen Allianz”, der N.V.A., schlossen, die auf dem Trümmerfeld einer im Jahre 2001 implodierten flämischen Regionalpartei, der  Volksunie, entstanden war. Dieses Kartell aus Christdemokraten und Nationalisten trat 2007 bei den Regionalwahlen mit einem ehrgeizigen Programm vor die flämische Wählerschaft, mit Punkten, die einen weitgehenden Abbau des zentralen Bundesstaates und eine radikale Neuverteilung der Machtzentren forderte. Das Parteienbündnis wurde in Flandern die überragende Wahlsiegerin. Der Erfolg der Nationalisten wiederholte sich mit einem überraschenden Triumpf  der N,V.A. unter Bart De Wewer bei den Parlamentswahlen 2010, wo sie im Alleingang – das Kartell mit den Christdemokraten war inzwischen in die Brüche gegangen – 30 Prozent der flämischen Wählerschaft auf sich vereinen konnte und die stärkste politische Kraft wurde.
Diese nationalistische N.V.A. ist die Triebfeder des flämischen Strebens nach Selbstständigkeit. In ihrem Parteiprogramm wird die Auflösung Belgiens als politisches Endziel anvisiert und die Bildung eines autonomen flämischen Staates angesetzt – wie und in welcher Form wird nicht gesagt; es wird auch keine Frist genannt, da, wie es heiβt, das Ende Belgiens so wie so in der Eigendynamik des auseinander driftenden Mehrvölkerstaates eingebaut ist, sodass dieses Ende unvermeidbar erscheint. Belgien werde sich unweigerlich von selber auflösen, so wie eine Brausetablette sich im Wasserglas auflöst. Das sei die zwangsläufige historische Logik einer zu Ende laufenden belgischen Entwicklung. Doch wann dies geschehen sollte – und nach welchen Zwischenetappen – bleibt unsicher.
Dieser nationalen flämischen Konzentration steht ein frankophoner Block gegenüber, dessen Speerspitze die frankophone sozialistische Partei, unter dem italienischen Emigrantensohn, Elio Di Rupo ist.
Die politische Logik fordert, dass die beiden stärksten Parteien in beiden Landesteilen (auf flämischer Seite die NVA, auf frankophoner die Sozialisten) die Koaltionsverhandlungen führen, um in einem nationalen Vergleich eine Regierung in den Sattel zu heben.
Doch nach dem politischen Tauziehen zeigte sich, dass ein solcher Vergleich zwischen Flamen und Französischsprachigen die Verbindung zwischen Feuer und Wasser ist. Monatelang drehten sich die Verhandlungen immer wieder um die gleiche Thematik:
Die  flämischen Verhandlungspartner – allen voran die Nationalisten – fordern eine groβe Staatsreform, die eine grundlegende Erneuerung der Machtverhältnisse ermöglichen soll. Alles, was die Regionalregierungen verkraften können, sollen sie erhalten und solle der zentralen Föderalregierung entzogen werden. Und das ist sehr viel: die Politik der Arbeitsbeschaffung und die Regelung des Arbeitsmarktes, die eigene Finanzierung wesentlicher Aspekte im Sozialbereich, die Ausländerpolitik, die Verkehrspolitik, die Klimapolitik, das Justizwesen, die Bildung homogener politischer Ausführungsmodelle, d.h. keine Überschneidungen der politischen Felder. Der zentralen Föderalregierung verbleiben schlussendlich nur einige Kernbefugnisse im Bereich der Auβenbeziehungen und der Verteidigung, die sowieso schon gröβtenteils unter europäischer und atlantischer Hoheitsverwaltung stehen.
Hinzu kommen – laut flämischem Forderungskatalog – noch einige höchst sensible Punkte. Ich nenne drei Forderungen: die endgültige Bereinigung von Konfrontationspunkten an der Sprachgrenze, die Zukunftsorientierung der Hauptstadt Brüssel und die Regelung der Finanzierung zwischen den Teilstaaten des Landes. Indessen zeigt sich, dass in diesen drei Punkten, die wir kurz explizieren möchten, die Konfrontation zwischen den Regionen oder Teilstaaten am heftigsten ist und das staatsreformerische Vorhaben überschattet.
Die strittigen Punkte an der Sprachgrenze konzentrieren sich auf die engste Nahtstelle der Sprachgemeinschaften, und zwar auf die Randgebiete Brüssels. Es handelt sich hier um flämisches Territorium, wo in den letzten Jahrzehnten ein starker Zustrom von Frankophonen zu verzeichnen ist. Sie haben in den letzten Jahrzehnten in einigen Kommunen die bodenständigen Flamen verdrängt und sind, mit dem gleichzeitig erfolgten Zustrom von “reichen Ausländern” zu einer Bevölkerungsmehrheit herangewachsen, die sich den territorialen Gegebenheiten nicht anpassen will.
Dieser Zustand führt zu einem virulenten Aufbäumen der  gesamten flämischen politischen Klasse gegen eines der naheliegendsten Relikte des belgischen Einheitsstaats: die Unschärfe der Sprachgrenze, die Anerkennung von Spracherleichterungen im Brüsseler Randgebiet, die Nichtanpassung der hier sesshaft gewordenen Neusiedler an die “flämische Realität” mit der unweigerlichen Konsequenz einer fortschreitenden “frankophonen Landnahme”.
In dieser Auseinandersetzung prallen übrigens zwei Rechtsmeinungen aufeinander: Das soeben in der Löwener Frage angesprochene Territorialprinzip, d.h. es zählt die Sprache des in der Verfassung festgelegten Teilgebiets; es ist das “jus soli”, (übrigens eine typisch germanische Rechtsauffassung) oder das von den Frankophonen ins Feld geführt Personalprinzip, das “jus personalis”, das wohl aus dem römischen Recht stammt und die individuelle Freiheit der Person bestimmt. Das Personalprinzip wird noch stets von dem frankophonen Staatsdenken gespeist, dass Belgien in seiner Gesamtheit auch ein französischsprachiger Staat sei, wonach das Französische überall in Belgien Heimrecht habe. In die inzwischen überholten, aber noch immer weiterlebenden Sicht der belgischen Staatsgründer mag dies stimmen.
Diese Subtilitäten des Rechtsempfindens, diese “Feinmechanik” im Rechtsdenken, muss man kennen, wenn man die komplizierte belgische Realität begreifen will.
Diese unterschiedlichen Auffassungen prallen in der Forderung nach Spaltung des Groβbrüsseler Wahlkreises aufeinander, der französischsprachiges und flämisches Territorium überlappt, Seit Jahren steht dieser Wahlkreis in der politischen Diskussion.
Der zweite Konfrontationspunkt, doch damit verbunden ist, ist die künftige Stellung der Hauptstadt Brüssel, die einst eine flämische Stadt war, mit Belgiens Staatswerdung aber überwiegend frankophonisiert wurde. Brüssel liegt auf flämischem Boden, daher auch der Expansionsdruck der Metropole auf die flämischen Randgebiete. Aus flämischer Sicht ist Brüssel ein “Ölflecken”, der ohne Gegenwehr sich weiter ausdehnen wird. Das hauptstädtische Gebiet wurde in den verschiedenen Verfassungsreformen zu einer autonomen Region erklärt. Brüssel bleibt aber ein gemeinschaftliches Objekt der beiden groβen Sprachgruppen, was Unterricht, Bildung und soziale Fürsorge angeht. Dieses überwiegend anderssprachige Brüssel (mit einer hohen Ausländerquote -bis zu 40% -)  braucht Geld, viel Geld (jährlich 500 Millionen Euro), um den kurzfristigen Bedürfnissen zu entsprechen. Brüssel ist ein Zankapfel. Wohin mit diesem Zankapfel, wenn die gesteckten Ziele der teilstaatlichen Autonomie erreicht werden?
Ein dritter Punkt, der derzeit den Gang der heftigen Autonomiediskussion bestimmt, ist die künftige Finanzierung der Selbstverwaltung und Autonomie. Die flämische Seite will das bisherige System der automatischen Geldtransfers vom Zentralstaat an die Teilstaaten grundlegend reformieren. Dieselben geschehen derzeit automatisch nach festgesetzten Kriterien. Sie sollen progressiv durch ein System der Selbstfinanzierung ersetzt werden: d.h. eigene Steuerhoheit und Ausbau eigener Mittel durch einen Finanzierungsmechanismus, der auf dem Prinzip einer verantwortungsbewussten Haushaltspolitik der Teilstaaten, dh. der Selbstverantwortung, beruht.
Die Philosophie der autonomen flämischen Finanzierungspolitik ist deutlich: Der zentrale Föderalstaat soll an finanzieller Macht einbüβen, der Regionalstaat, besonders Flandern, soll erstarken. Mit der anvisierten Machtumkehr kann das reiche Flandern endlich sein Geld in seiner eigenen Region autonom investieren, was in der bisherigen Verteilung unzureichend geschieht. Der wallonische Teilstaat lehnt diese Finanzierungsreform weitgend ab, weil er fürchtet, der Verarmung anheimzufallen; das Gefälle zwischen Flandern und Wallonien, das sich derzeit sogar anschickt, eine für Wallonien günstigere Entwicklung einzuschlagen, würde unüberbrückbar.
Der Einsatz eigener Mittel für die eigene Region ist auch das Prinzip der Übertragung von Zuständigkeiten an die Regionen; doch der wallonische Regionalstaat macht auch hier Einschränkungen: Er fordert nur eine partielle Selbstfinanzierung, etwa 70 %. Der Rest solle vom Zentralstaat weiter übernommen werden. Auf flämischer Seite wird ein solches Vorgehen als eine halbherzige Autonomieverleihung verurteilt.
Das sind einige der wichtigsten Ausgangspunkte, um die sich seit 467 Tagen die Verhandlungen drehen. Tonangebend waren bis Ende Juni die beiden groβen Parteien und Wahlgewinner: die Sozialisten auf frankophoner Seite und die flämische NVA. Am Verhandlungstisch saβen vier französischsprachige Formationen und fünf flämische, bis die NVA  Anfang Juli die Gespräche kündigte und sich zurückzog. Dies geschah mit sichtlicher Erleichterung auf frankophoner Seite, weil somit der härteste Verhandlungspartner das Boot verlieβ, der in ihren Augen die Kompromissbereitschaft erschwerte.
Sind aber nach dem Ausscheiden der Nationalisten mit den härtesten Diskussionspunkten und einem Fernprogramm, das auf Belgiens Auflösung ansteuert, die Verhandlungen leichter geworden? Keineswegs! Sie haben zwar eine neue Wende erhalten, doch bleibt es schwer, eine konstruktive Gesprächsbereitschaft zu finden. Man dreht sich weiter im Kreise; keine Partei will sich eine Blöβe geben, denn derjenige, der jetzt noch den Stecker auszieht, wird einen Kurzschluss verursachen und das Risiko von Neuwahlen auf sich nehmen.
Und damit, meine Damen und Herren, erreichen wir den letzten und gefährlichsten Teil der belgischen Gratwanderung.
Auβer für die flämischen Nationalisten, die nach jüngsten Meinungsumfragen ihren Höhenflug munter fortsetzen, würden Neuwahlen für die flämischen Verhandlungsparteien politischer Selbstmord sein.
Doch es geht um mehr! Neuwahlen, so glauben Belgienkenner und erfahrene Parteistrategen, würden die 24. Stunde für Belgien einläuten. Neuwahlen würden ein gewagtes Hasardspiel sein, dessen Einsatz das Königreich ist. Belgien würde diesen Kraftakt nicht mehr überleben. In Shakespeares Drama “Richard III.”, genügte ein Pferd, um das gefährdete Köngreich noch zu retten. Doch wie könnte das rettende Pferd für das Königreich Belgien aussehen?
In den Schubladen der politischen Parteien und Denkschmieden reifen daher Pläne heran, die die Zukunft eines auseinanderfallenden Belgiens behandeln. Man nennt diese Alternativen den “Plan B”- er besteht in unterschiedlichen Varianten.
Vorab ist das nächstliegende Ziel ein konföderales Modell. Es wird von allen flämischen Parteien – allerdings mit unterschiedlicher Interpretation – verteidigt. Es ist die politische Vorstellung eines Bundes unabhängiger Teilstaaten. Die Zahl der Teilstaaten bleibt allerdimgs umstritten: Einige gehen von den beiden groβen Gemeinschaftsregionen, Flandern und Wallonien, aus: Das wäre das “Belgien zu zweit”. Brüssel und die Deutschsprachige Gemeinschaft würden im Schlepptau dieser beiden führenden Teilstaaten ein Sonderstatut erhalten.
Andere wollen Brüssel einschlieβen: “Belgien zu dritt!”
Noch Andere, darunter namhafte Staatskundler und auch die Politiker der Deutschsprachigen Gemeinschaft, wünschen ein “Belgien zu viert”: d.h. dass Flandern, Wallonien, Brüssel und das deutsche Sprachgebiet die vier autonomen Teile der belgischen Konföderation bilden sollen.
Diese Form des Konföderalismus (gleich ob zu “zweit”, “zu dritt” oder zu “viert”) wäre ein einmaliges Staatsgebilde. In der Staatskunde bedeutet Konföderalismus der Zusamenschluss unabhängiger Staaten zu einer Union mit dem Ziel, in gewissen Bereichen gemeinsam zu handeln. Man strebt auf einander zu. Doch im belgischen Modell des Konföderalismus würde das Gegenteilige geschehen: Man strebt auseinander! Im Extremfall würde man den föderalen Zentralstaat auskleiden und praktisch nackt zurücklassen. Das Endergebnis dieser Operation wäre ein schwacher belgischer Zentralstaat. Das Endergebnis wäre je nach Verlauf der Dinge ein wackliges Staatsgefüge, das man mit einem Lego-Bau vergleichen könne, der nur noch wenige Verankerungen vorweist. Und diese wären die Europa-Politik, die Verteidigungs – und Sicherheitspolitik sowie Aspekte der Entwicklungshilfe und der internationalen Solidarität. Und das Königshaus könnte im konföderalen Modell ebenfalls seinen Platz als Repräsentationsorgan (nach schwedischem Muster) finden.
Der Konföderalismus wird höchstwahrscheinlich am Ende der belgischen Gratwanderung stehen – vielleicht nicht in dieser extremen Form; dennoch als Modell der regionalen Eigenständigkeit. Möglicherweise könnte dieses wacklig erscheinende Staatsmodell die Auflösung Belgiens aufhalten – zumindest könnte es die Auflösungserscheinungen für einige Jahrzehnte kanalisieren.
Kommt es nicht zu einer konföderalen Lösung, wäre nämlich die glatte Aufspaltung des Landes die letztlich verbleibende Alternative. Da hätten wir sie also doch: die berüchtigte Brausetablette! Die Auflösung Belgiens ist nach den Vorstellungen dieser Theorie eine historische Logik im Werdegang des belgischen Staates. Doch ich glaube nicht an einen solchen historischen Determinismus. In der Geschichte gibt es viele Unwägbarkeiten. Die Dinge laufen sehr oft anders, als sie vorgezeichnet sind.
Es gibt viele Fragen, die bei einer glatten Spaltung beantwortet werden müssen: Wie wird die Republik Flandern aussehen? Wohin geht die Wallonie? Was geschieht mit Brüssel? Wohin geht die Deutschsprachige Region? Wo bleibt die Monarchie? Was ist mit den internationalen Verpflichtungen Belgiens? Müssten die neuen Staaten, die aus dem aufgelösten Belgien hervorgehen, neue Beitrittsverhandlungen zur EU führen? Wie wird die neue Staatsgrenze verlaufen? Was geschieht mit der Staatsschuld? Und viele Fragen mehr!
Ich glaube, dass dann Verhandlungen auf uns zukommen, die weit schwieriger sein werden als die derzeit geführten Regierungsverhandlungen. Die Verhandlungen über die “belgische Scheidung” könnten 10, 20 Jahre dauern.
Meine Damen und Herren!
In den letzten 50 Jahren ist ein Belgien entstanden, wo mehrere Realitäten nebeneinander, nicht miteinander wohnen, Gemeinschaften, die stets weniger von einander wissen. Die letzten Parlamentswahlen haben es gezeigt: Es waren Wahlen, die praktisch in zwei verschiedenen Ländern stattfanden, völlig unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Programmen und unterschiedlichen Ergebnissen. Die Kommunikation zwischen den beiden groβen Volksgruppen ist quasi inexistent. Das erschwert in höchstem Maβe den Dialog. Am Brüsseler Verhandlungstisch wird dies deutlich spürbar: Hier sitzen zwei Kulturen, zwei Gesprächspartner, die sehr oft die Dinge aus einer anderen Perspektive sehen. Das Ganze erweckt den Eindruck einer internationalen Konferenz.
Die beiden Hauptakteuren, die Flamen und Wallonen, haben selber die Bindemittel eines politischen Ausgleichs und somit einer gutfunktionierenden föderalen Struktur im Laufe der letzten Jahrzehnte neutralisiert. Es gibt keine politischen überföderalen Nahtstellen mehr: keine gemeinsamen Parteistrukturen, die in einem demokratischen Zusammenleben eine so eminent wichtige Rolle spielen, keine ineinandergreifenden Elemente der Zementierung, wie beispielsweise die Presse. Selbst die Föderalregierung und die beiden Kammern der nationalen Volksvertretung sind ausgehöhlt worden oder von Bruchlinien zersetzt.
So ist also der 467. Tag der Regierungslosigkeit in Belgien zu verstehen: Historisch bedingte Reaktionen und Gefühlseruptionen, Machtpositionen, die verloren gegangen sind und denen man nachtrauert –  sie bestärken den Eindruck, dass die Irrationalität im Königreich Belgien die Oberhand gewonnen hat. Es geht in der Tat um geschichtlich bedingte Leitlinien, die sehr oft das Handeln in den Sprachgemeinschaften bestimmen.
Hinzu kommt noch eine besondere Entwicklung: In Belgien stellt sich – wohl wegen seiner ethnischen und sozio-kulturellen Zusammensetzung – ein Phänomen ein, das bei anderen Staaten erst am fernen Horizont wahrgenommen wird. Es ist der Aufbruch zu einem post-nationalen Zeitalter. Das, was die Nation in unserer Zeit der Globalisierung nicht mehr geben kann – eben weil die belgische Nation in der herkömmlichen Weise nie bestanden hat – das wird von dem Nächstliegenden, der Region, erwartet. Es ist der Rückzug auf die heimatliche Region.
Dieses Phänomen spielt derzeit am Brüsseler Verhandlungstisch, vielleicht unbewusst, eine nicht unwichtige Rolle.
Ob unter diesen Voraussetzungen der Gratwanderer sein Ziel erreicht, ist eine Frage, die die Zukunft beantworten wird. Derzeit werden jedenfalls die Grundlinien eines neuen Modells gezogen. Nur darf der Gratwanderer jetzt auf dem schmalen Steg nicht abstürzen.

Ich danke Ihnen.

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