60. Jahrestag der Befreiung

Zeitzeugenbericht

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Johanna Gallo-Schmitz (geb. 1936)

Das Elternhaus von Frau Johanna Gallo-Schmitz wurde am 13.1.1945 durch zwei Bomben völlig zerstört. Dabei kamen ihre Mutter und vier ihrer Geschwister ums Leben. Das Elternhaus befand sich hier am Steinbruch.
In ihrem ausführlichen Bericht beschreibt Frau Gallo die vielen Facetten des Lebens im Krieg, wie sie sie als Kind erfahren hat. Die Dramatik steigert sich bis zum Höhepunkt: der Bombardierung des Elternhauses.

Vorher: Nachher:

Seit dem Einmarsch Hitlers 1940 waren wir wieder deutsch. In der Schule herrschten plötzlich auch wieder andere Sitten. Morgens und beim Verlassen des Schulunterrichts hieß es im Klassenraum strammstehen und den "Hitlergruß" mit erhobener Hand und lauter Stimme bekräftigen. Ferner wurden wir aufgeklärt, über das, was uns auf dem langen Schulweg alles passieren könnte. Denn immer mehr Flugzeuge beherrschten die Luft, warfen Flugblätter ab um werbende Tätigkeit, sprich Propaganda zu entfachen. Wir wurden gewarnt, etwas aufzuheben, was am Wegrand lag, denn nicht selten war so ein Ding oder Fläschchen mit Phosphor gefüllt und man erlebte eine böse Überraschung. Aber wir lernten schnell damit umzugehen, wurden wir doch von unserem Lehrer darauf gedrillt. Doch wir Kinder nahmen es leicht, merkten nicht das drohende Unheil, was unerbittlich auf uns zukam. Unser Lehrer sagte uns, wenn wir ein Stück altes Eisen mit zur Schule brächten, brauchten wir an dem Tag keine Hausaufgaben zu machen. Das Eisen diente dazu, neue Waffen zu bauen, doch was scherte es uns. Die Eltern durften es wohl nicht merken.

Wir lernten vieles um. Statt der schönen Heimatmelodien erklangen jetzt überall 'Hitlerlieder', die nur vom "letzten Gruß", von "marschieren", "Tapferkeit und Heldentum" sprachen, und wir sangen sie auch noch voller Stolz mit. In der Schule entfernte man das Kruzifix; an dieser Stelle hing jetzt das Hitlerbild. Die Kleinsten und Schwachen mussten einen Löffel mitbringen und bekamen dann jeden Tag in der Pause einen Schluck Lebertran, damit sie groß und kräftig wurden - wahrscheinlich mit dem Hintergedanken, auch später mitkämpfen zu können. Wir hatten immer einen Ekel gegen diesen Schleim, aber da hieß es durch: Augen zu und runter - es geschah ja für den "Führer".

Täglich flogen viele Flugzeuge in großen Verbänden über unser Dorf schwer beladen mit Bomben, weiter nach Deutschland zu den Großstädten. So oft zählten wir diese Flieger, es waren meisten so an die 30 - 40 die von Amerika die tödliche Fracht abwarfen. Und plötzlich kam von drüben Antwort. Die berühmte V1 donnerte meist nachts über uns hinweg. So kam es, dass sie Lüttich, Brüssel, Antwerpen und andere belgische Städte erreichten. Sie richtete in manchen Orten sehr viel Unheil an.

Viele deutsche Städte und Dörfer wurden evakuiert. Auch in unser Dorf kamen sie von Köln und Düsseldorf. Eine Familie Badorf aus Köln mit zwei kleinen Kindern wohnte mit noch anderen Flüchtlingen neben uns im Hotel. Wir wurden alle gute Freunde. Eines Tages brachte uns Herr Badorf ein kleines Radiogerät, was damals ja noch Seltenheitswert hatte. So bekam man über die Nachrichten von Geschehen in der großen weiten Welt etwas mit. Allerdings war es verboten, feindliche Sender zu hören, was die Eltern dennoch heimlich taten. Abends mussten alle Fenster verdunkelt werden, damit kein Lichtschimmer nach draußen drang, denn jedes kleine Licht konnte der Anlass zu einem Angriff sein. Man bekam damals dunkelblaues dickes Papier, das wie Rollos am Fenster befestigt wurde. Eines Nachts passierte es dann doch, ich glaube es war 1943. Es muss wohl jemand an der Bahnstation mit einer Laterne hantiert haben und prompt setzten sie zwei Bomben auf deutscher Seite, die nur knapp ein Haus verfehlten. Das waren die ersten Vorboten und es sollte allmählich immer schlimmer kommen.

Flugzeuge waren täglich am Himmel zu sehen. Sie waren eine Gefahr für jeden. Besonders die Züge, die unser Dorf passierten, waren ein gesuchtes Zielobjekt. Mutter war eines Tages mit der Bahn nach St.Vith zum Einkaufen gefahren. Wir beiden jüngsten wollten sie am Mittag abholen, freuten wir uns doch riesig auf ein Stückchen Kandiszucker, das sie uns mitbrachte. Wir lagen in der Sonne am kleinen Bach auf der Wiese vor unserem Haus. Plötzlich kommt unsere Nachbarin laut rufend gelaufen: "Schnell, schnell, die Flugzeuge kommen !" Sie riss uns buchstäblich mit sich. Kaum waren wir im Haus, als ein fürchterliches Krachen begann. Sie hatten den Zug erwischt und mit ihren Bordwaffen alles lahmgelegt. Mutter lief durch den Kugelhagel bis zum Haus und blieb wie durch ein Wunder unverletzt. Ja, die Hölle war los, es gab Verletzte, doch auch leider einen Toten: den Schaffner. Viele waren nahe der Bahn in einen für solche Gefahren erbauten Luftschutzkeller gelaufen. Der Zug wurde notdürftig zusammengeflickt, die Fensterscheiben wurden mit Pappkarton zugestopft. Wir erkannten immer "unseren" Zug, denn er war am schlimmsten zugerichtet. eit jenem Tag wurden zwei offene Waggons angehängt, worauf das Militär mit Flak Stellung bezog. Sie sollten, falls Flugzeuge in der Luft waren, mit ihrer Abwehr den Zug verteidigen. Schauderhaft: die armen Jungs standen unten, die anderen kamen von oben.

Als wir eines Tages beim Unterricht in der Schule fürchterliches Gedröhne von draußen hörten, kam wieder die Angst. Unser Lehrer sah sorgenvoll zum Fenster hinaus, dann sagte er plötzlich: "Kommt, seht, da oben findet ein Luftkampf statt. !" Wir beobachteten alle diesen schrecklichen Kampf. Einige US-Flugzeuge bekämpften einen deutschen Flieger, nahmen ihn in die Mangel und schossen ihn erbarmungslos ab. Das schwere Gefährt stürzte ab, verfehlte knapp ein Haus, schoss am Giebel vorbei und zerbarst auf einer Wiese. Ein Flügel fiel in einen nahe gelegenen Wald. Der Pilot musste sein junges Leben lassen. Wir sind gleich nach der Schule zum Dorf Maspelt gelaufen um das Flugzeugwrack zu sehen.



Der Ortsvorsteher des Dorfes zeigte uns auch die Leiche des Piloten, welcher in der dortigen Dorfschule aufgebahrt war. Ich erinnere mich noch so genau an sein Gesicht, das blau angelaufen war. Er trug eine gelb-beige Uniform. In seinen Hosentaschen waren noch einige Kekse drin.

Des Öfteren hörte man nun, dass wieder ein Flugzeug abgestürzt sei. An einen Absturz erinnere ich mich noch: Wir standen im Hof und es war wieder viel Getöse in der Luft. Willy rief: "Seht mal, dort stürzt ein Flugzeug ab !" Es drehte sich, immer ein Flügelschwung über den anderen, und nicht im Sturzflug, bis man den fürchterlichen Knall hörte. Der Absturz war nahe St.Vith, auf "Gut Eidt".

Wir blieben solange Deutsche bis die Amis im September 1944 kamen. Weil es bei uns in Steinebrück sehr brenzlig wurde, gingen unsere Eltern mit uns ins Nachbardorf Weppeler zu Familie Hoffmann. Diese hatte hinter dem Haus einen kleinen Bunker in die Erde gegraben, worin nur wenig Platz war. Gegen Mittag brach die Hölle los. Wir kamen nur noch durch ein Hinterfenster unter Lebensgefahr bis zu dem kleinen Unterschlupf. Wir pferchten uns alle nebeneinander da rein.

Es schoss, pfiff und zischte nur so um uns herum. Die Großen beteten den Rosenkranz. Überall schlugen Granaten und Geschosse ein. Ich glaube, dass wenn wir einen Volltreffer bekommen hätten, wäre der Schutz des Bunkers umsonst gewesen. Denn soviel Erde war nicht über unseren Köpfen - vielleicht zum Schutze vor Splittern, aber nicht vor Granaten. Plötzlich rief der Sohn der Familie: "Im Dorf gegenüber (in Urb) brennt ein Haus und dann noch eine Scheune." Es war schlimm. Das Anwesen der Familie Hoffmann erlitt aber keinen Schaden. Als es sich gegen Abend draußen etwas beruhigt hatte, schlugen die Eltern vor, den Heimweg anzutreten. Es fing schon an zu dämmern. Wir Kinder mussten als erste gehen, damit die Soldaten sahen, dass es eine Familie war. Wir hatten natürlich Angst, als wir die dunkeln Gestalten hinter Bäumen und Hecken bemerkten. Aber wir waren ja schon an vieles gewöhnt, und auch darauf stellten wir uns ein.

Zu Hause hatten die Deutschen die Brücke über die Our gesprengt. Durch die heftige Explosion waren einige Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Ansonsten war noch alles heil geblieben.

Am nächsten Tag ging der große Rummel los. Das Dorf wimmelte nur so von Militär und deren Fahrzeuge. Wir standen draußen im Hof und staunten nur. Die Soldaten warfen uns Süßigkeiten zu. So etwas hatten wir noch nicht erlebt. Zum ersten Mal machten wir Bekanntschaft mit "Chewinggum". Misstrauisch und zurückhaltend waren wir wohl noch etwas, weil man uns gesagt hatte, es seien Schwarze dabei, die sehr gefährlich wären. Ihrem Aussehen entsprechend ja, aber dem war nicht so. Die Erfahrung machten wir schon bald, dass da keinerlei Unterschied war. Ab diesem Tag lebten wir sozusagen mit ihnen zusammen. Die hatten so viele gute Sachen, und immer fiel für uns etwas davon ab. Ganz schnell lernten wir auch ihre Sprache. Eines Tages fand ich in einem Schützengraben ein kleines Spiel. Sie nannten es "Bingo". Jeden Abend kamen zwei junge Soldaten zu uns - Ray und Eric hießen sie. Sie erklärten uns das Spiel und all abendlich spielten wir mit ihnen. Der Gewinner wurde jedesmal mit Schokolade, Bonbons oder Kaugummi belohnt, was die beiden natürlich alles mitbrachten.

Das waren unvergessliche herrliche Stunden, und die Süßigkeiten häuften sich an. Leider haben wir später nie mehr etwas von den Jungs gehört. Im Schlafzimmer der Eltern bezog ein Major bzw. ein Offizier Quartier und wir mussten alle näher zusammenrücken. Der Offizier hieß Earl Sanders, der Major Gustav Labori. Beide hatten ihre Boys dabei. Es waren aber im Grund genommen nette Menschen. Besonders der jüngere, Sanders, unternahm viel mit uns Kindern und andererseits liebäugelte er mit unserer ältesten Schwester Sanny. Er nahm uns mit ins Kino, das im Hotel nebenan gezeigt wurde, denn das ganze Haus hatten ja die Amis in Beschlag. Neben der Eisenbahnlinie war eine ganze Reihe Zelte aufgebaut, ich glaube, es waren elf Stück. Darin war die Reserve fürs Militär untergebracht: Kleider, Schuhe, Bürobedarf, Nahrung, usw. Ihre Messe hielten sie im Saal von Hotel. So kam es, dass der Geistliche, der uns mal singen gehört hatte, uns fragte, ob wir nicht zu Weihnachten für die Soldaten das "Stille Nacht, heilige Nacht" und noch einige andere Lieder singen könnten. Wir waren so begeistert, zumal sie uns eine reichliche Belohnung versprachen. Wir fingen auch gleich mit den proben an und mussten schon mal zum Pastor zum Vorsingen. War das eine Vorfreude auf das Fest. Jedoch unser Enthusiasmus wurde bald gedämpft.

Erst lebten wir wie die Made im Speck und dachten an ein baldiges Kriegsende. Aber als wir wieder in besorgte Gesichter sahen und am 16. Dezember plötzlich wieder Geschützdonner losbrach, änderte sich alles wieder von einer Stunde zur anderen. Als das Grollen der Geschütze immer stärker wurde, verzogen auch wir uns ins Haus. Bei den Eltern fühlten wir uns geborgen. In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember nahmen uns die Eltern schon früh aus den Betten. Draußen gab's ein Hin und Her, ein Auf und Ab. Zwischendurch Artillerieeinschläge, alle hatten Angst. Einer der Offiziere kam rein, sah sehr verängstigt aus und sagte zur Mutter: "Oh, Mother, not good !" Mutter hatte mich mit einem Kissen und einer Decke auf die Bank hinterm Tisch gelegt. Diesmal hatte ich schreckliche Angst. Ich hörte die Einschläge und dachte "Jetzt trifft's dich." Draußen fuhren sie statt zur deutschen Seite aber alle zurück, Richtung St.Vith. Das war kein gutes Zeichen, denn die Amis waren auf schnellem Rückzug, und somit wussten wir auch, dass die Deutschen wiederkamen.

Als es hell wurde hatte unser Nachbar die Ochsen an den Leiterwagen gespannt. Wir luden darauf, was wir mitbekommen konnten und fuhren zu einem alten Schieferstollen, der sieben- bis achthundert Meter oberhalb des Dorfes liegt. Dort suchten wir Schutz für die kommenden Tage. Doch trotz Kugelhagel und Granateinschlägen kamen wir alle heil dort an. Der Stollen umfasste zwei Räume. Der erste ist größer und wenn man tiefer hineingeht ist ein kleiner Durchgang und man kommt in einen zweiten, kleineren Raum. Dort installierten wir uns, mehr schlecht als recht. Aber wir waren erst mal in Sicherheit. Vater war mit meinen Brüdern Hubert und Willy weiter mit den Amerikanern nach Wiesenbach geflohen, aus Angst, dass die Deutschen sie mitnähmen. Während wir in der Höhle waren, hatten die Männer die beiden Ochsen im nahen Wald an Bäume festgebunden. Aber auch die Tiere waren ängstlich und hatten sich während der ganzen Schießerei losgerissen und waren weggelaufen. Die Familie fand sie aber wieder. Auch der Leiterwagen war durch die Geschosse schwer beschädigt. Es müssen sich schreckliche Kämpfe abgespielt haben. Man sagte, Steinebrück habe während einiger Stunden mehrmals den Besitzer gewechselt.

Als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, zogen wir wieder heim. Am Nachmittag stürzten einige Soldaten in unsere Küche. Sie waren so verdreckt und sagten nur: "Wasser, Wasser !". Sie waren so abgehetzt und kamen direkt von der Front. Mutter stellte einen Eimer mit frischem Wasser in die Mitte der Küche. Sie stürzten sich darauf und tranken gierig. Ich hörte, wie ein Soldat sagte: "Mensch, das schmeckt wie Schnaps !".

Jetzt wimmelte es wieder überall von deutschen Soldaten, und wieder waren wir mit ihnen zusammen. Nur Süßigkeiten gab es nicht, und vieles andere auch nicht. Die armen Jungs hatten ja selbst nichts. Sie froren, hungerten und waren von Läusen befallen. Nicht einmal das nötige Läusepulver besaßen sie. Es fehlte an allem, und in diesem desolaten Zustand sank auch die Moral. Sie richteten in unserer Stube ihr Schreibbüro ein. Es blieb nicht viel Platz für uns. Wir Kleinen schlichen uns manchmal leise in die Stube, um uns am Ofen zu wärmen, denn draußen herrschte grimmige Kälte. Sie sahen es nicht gerne, ließen uns dann doch am warmen Ofen sitzen.

Draußen beherrschte die ganze amerikanische Luftflotte wieder den Himmel. Zu Tausenden flogen sie über uns zu den Großstädten nach Deutschland, legten sie in Schutt und Asche und brachten soviel Unheil über viele Familien.
Und nun wurde im Dorf, auf dem Berg "Stock" genannt, schwere Artillerie aufgefahren. Sie nahmen alle Stellung in Schützengräben und Festungen, die sie sich selbst dort aufgebaut hatten. Jetzt wurden täglich diese großen Flugzeugverbände der Alliierten beschossen; doch getroffen haben sie nie. Mutter sagte so oft: "Wenn die doch aufhören würden. Das kann nicht gut gehen !" Auch wurde von oben wieder auf alles geschossen, was sich bewegte.

Weihnachten rückte schnell näher, nur noch ein paar Tage. Wir, die Kleinen, rechneten fest mit dem Christkind. War das doch immer ein Fest für uns. Wir bekamen, wie wir später erfuhren, die Puppenwagen und die sonstigen schönen Sachen von den älteren Kusinen aus Köln. Vater und die älteren Brüder schreinerten eine Puppenküche, kleine Möbelstücke oder sonstiges schönes Spielzeug. Mutter erklärte uns aber, dass das Christkind in diesem Jahr nicht käme; bedingt durch die Kriegszeit sei es zu arm. Was scherte uns der Krieg; das Christkind kam schließlich von Himmel ! Das wollten wir nicht wahrhaben und stellten doch einen Teller auf. Unsere Enttäuschung war natürlich groß, als am anderen Morgen nichts drauf war.

Am 25. Dezember war ein Bombenteppich über St.Vith niedergegangen, es gab viele Tote. Am zweiten Weihnachtstag kam es noch viel schlimmer. Die ganze Stadt fiel unter dem Bombenhagel. Wir spürten die Erschütterungen bis bei uns zu Hause.



Anfang Januar musste mein Bruder Willy mal zur Tante "zum Hüwwel", ein Haus auf deutscher Seite auf dem Brüsselsberg. Er nahm mich mit, zog den Schlitten, auf dem ich saß, den Berg hoch. Etwa gegen halb zwölf Uhr mittags - wir waren gerade auf dem Heimweg und saßen beide auf dem Schlitten - kam plötzlich ein Soldat gesprungen, riss uns vom Schlitten und sprang mit uns in den Straßengraben. Schon waren Flugzeuge über uns und dann ging auch schon ein Bombenteppich über den Urber Berg nieder. Wir sahen vom Graben aus, wie die schweren Bomben niedersausten. Sie trafen die Eisenbahnbrücke voll in die Mitte. Diese führte über die Our von Steinebrück nach Ihren. Wir sahen, dass die Eisenbahnschienen ganz hoch in die Luft geschleudert wurden und weiter auf einem Acker liegen blieben. Der Soldat nahm uns bei der Hand und sagte: "Kommt schnell mit in den Keller." Wir liefen mit ihm in das Zollhaus, das sie in ein Lazarett umgewandelt hatten. Als wir in den Keller wollte, kam ein anderer Soldat und sagte: "Nicht dahinein mit den Kindern, dort liegen Tote !" Weiter ging's im Laufschritt irgendwo in einen Raum, wo man nur schwerverwundte Soldaten sah. Als es sich draußen wieder etwas beruhigt hatte, konnten wir nach Hause. Mutter saß zitternd in der Küche auf einem Stuhl. "Dass ihr nur wieder heil da seid !", sagte sie, "jetzt geht ihr aber nicht mehr weg !"

Diese ganzen Flugzeugstaffeln, die täglich kamen, wurden immer wieder von der deutschen Flak beschossen. Es kam, wie es kommen musste. Samstag, der 13. Januar 1945. Mutter schleppte sich seit Tagen mit einer bösen Grippe herum. Sie lag im Bett und stand wieder auf. Vater war mit Hubert zum Nachbardorf Weppeler gegangen, um das Dach am Haus der Familie Hoffmann zu reparieren, das durch eine Bombe, die am 8. Januar hinterm Haus eingeschlagen war, beschädigt war. Den ganzen Tag blieben sie dort. Mutter war so unruhig. Sie kam aus dem Bett in die Küche und sagte: "Kinder, bleibt heute alle hier; ich habe kein gutes Gefühl. Bleibt alle schön im Haus." Die Angst war begründet bei all dem Wirrwarr der letzten Tage; und die ganzen Bomber, die über uns hinweg flogen, jagten uns alle Schrecken ein. Um vierzehn Uhr brach dann das große Unheil ein. Willy, Anna, Gerda und Karoline hatten mit einem Soldaten im Hof gestanden und wollten einen dieser großen Flugzeugverbände zählen. Ich war zu der Zeit in der Stube, hatte oben meine Puppe geholt und wollte mit meiner Schwester Puppenkleidchen nähen und nahm noch Zwirn aus der Schublade vom Schrank, als es plötzlich ganz grell blitzte, das Fenster flog rein, jemand riss die Tür auf und - zack - aus war's.

Es ging rasend schnell. Dunkelheit rundherum. Ich konnte mich kaum noch bewegen. Bald merkte ich, dass jemand über mir lag. Es war ein Soldat. Er versuchte sich zu bewegen, was für mich schlimm war. Ich glaubte, er würde mich erdrücken. Ich sprach mit ihm, damit er merken sollte, dass ich unter ihm lag. Dann der Staub. Ich glaubte, zu ersticken. So fragte ich, was denn überhaupt geschehen sei. Er wusste es auch nicht. Bomben oder ein Flugzeugabsturz ? Zwischendurch stöhnte er, rief nach seinen lieben Eltern und seiner lieben Anny, was wohl seine Braut oder Frau war. Dann rief er wieder gequält: "Meine Hand, meine Hand." Es war alles so schrecklich dunkel. Ich hatte den Mund voll Dreck und Staub. Versuchte ich zu spucken, kam immer mehr rein. Nach und nach wurde der Soldat ruhiger, still, unheimlich. Er rührte sich nicht mehr und auf einmal war alles ruhig. Ich bin dann auch in ein tiefes Loch gefallen; die Ohnmacht erbarmte sich meiner - wie lange, weiß ich nicht. Bis ich plötzlich etwas frische Luft verspürte und mir jemand etwas Wasser in den Mund träufelte.

Wie man mir später sagte, hatten sie den armen Soldaten gefunden, tot. Als sie seine Leiche bargen, fanden sie auch mich unter ihm liegend. Womöglich verdanke ich ihm mein Leben. Er hielt mit nämlich den Druck der Steine ab. Unser Haus, das traute Heim, war zu einem Massengrab geworden, was ich aber erst später erfahren sollte. Die Soldaten brachten mich ins Hotel, wo sie im Keller eine Notaufnahme eingerichtet hatten. Der Arzt bemühte sich mir den Mund sauber zu machen. Ich weiß, dass er kleine weiße Tüchlein hatte, um mir damit den Mund zu reinigen, der voller Dreck war. Der Arzt sagte zu einem Helfer, indem er auf mich deutete: "Bringt sie ins Lazarett nach drüben." Er nahm mich auf den Arm und ging los. Es herrschte eisige Kälte. Ich besaß ja nur, was ich auf dem Leibe trug. Um mich herum war alles grau und schwarz, nichts mehr von dem glitzernden Schnee. Bäume, Bretter, Steine, alles in einem undefinierbaren Chaos. Mir war alles egal; ich konnte keinen Anfang und kein Ende erfassen. Die Welt hatte sich für mich verändert. Als wir auf deutscher Seite am Hause "Husch" waren, rief plötzlich eine Frauenstimme: "Johanna, ich bin es, Maria Deutsch." Sie erklärte dem Soldaten, dass sie die Nachbarin sei und gerne mitkommen möchte. Sie hatte nämlich gesehen, dass ein Soldat mit einem Kind nach drüben ging. Sie wollte in meiner Nähe bleiben, denn allzuoft wurden Verletzte weiter weggebracht, und wer wusste später, wo sie geblieben waren. Sie blieb bei mir, bis der Lazarettarzt mich eingehend untersucht hatte. Da ich aber außer Quetschungen keine schwerwiegenden Verletzungen hatte, fragte Frau Deutsch, ob man mich nicht zur Tante "zum Hüwwel" bringen könnte. Ihr Haus lag in unmittelbarer Nähe des Lazaretts. Und sie brachten mich zur Tante. Dort saßen alle dichtgedrängt im Keller. Eine ziemlich dickliche Frau, die aus der Stadt evakuiert war und bei der Tante Unterschlupf gefunden hatte, schimpfte, es wären schon genug in dem engen Raum.

Mir war schlecht und ich musste mich erbrechen. Die Tante meinte, das wäre gut, so käme der ganze Dreck raus. Ich glaubte, in dem engen Raum zu ersticken.

Dann die Ungewissheit über die anderen. Wo waren sie alle geblieben ? In der Nacht kamen ein paar Jabos und setzten noch einige Bomben. Wahrscheinlich hatten sie irgendwo Licht entdeckt. Vater und die anderen, Soldaten und Helfer, suchten ja immer noch nach Verschütteten. Da Vater und Hubert nicht zu Hause waren, blieben sie von dem Inferno verschont. Sie hatten wohl das ungewöhnliche Rauschen und die Explosion der Bomben gehört. Sie ahnten aber nicht, dass das Unheil so nahe niedergegangen war. Der Berg, der zwischen Weppeler und Steinebrück liegt, hatte den Schall gedämpft; sie dachten, es wäre weiter weg. Um so größer war der Schock, als sie gegen Abend den Heimweg antraten und ihnen unterwegs ein deutscher Soldat von dem Inferno berichtete. Sie sahen, dass unser kleines Dorf nur noch von Erde und Staub bedeckt war. Sie liefen so schnell es ging und fanden das traute Heim nur noch als schrecklichen Trümmerhaufen. Soldaten wühlten in den Trümmern, wollten retten, was zu retten war. Es lagen doch auch noch viele ihrer Kameraden drunter. Sanny haben sie als erste tot gefunden. Eine Bombe war in Vaters Werkstatt eingeschlagen und eine vor dem Haus. Durch den ungeheuren Luftdruck war das Haus in sich zusammengedrückt worden. Sanny, die in der Küche war (die Küche war ja nur durch eine Wand von der Werkstatt getrennt) flog durch die Wand in die Stube, mit dem Kopf zwischen Mauer und Schrank. Sie muss sofort tot gewesen sein. Wo waren die anderen und wo sollten sie anfangen zu suchen? Willy, Gerta, Lina und einen Soldaten fand man alle zusammen übereinander eingequetscht in der Tür, die in die kleine Futterküche führte.
Dadurch liefen wir immer bei Gefahr in den Stall. Wir glaubten uns da mehr geschützt, weil über dem Stall der Heuboden lag. Doch leider ging alles so rasend schnell, dass sie den Stall nicht mehr erreichten. Denn tatsächlich blieb der Stall und das Vieh unversehrt. Anna war die einzige, die gerade durch die Tür in die Futterkammer kam, die auch dann zur Hälfte einstürzte. Sie konnte sich aus eigenen Kräften befreien und lief durch den Stall nach draußen bis zu Verwandten, die bei uns auf belgischer Seite wohnten. Sie muss sehr schmutzig und verstört ausgesehen haben, denn die Tante erkannte sie nicht wieder, bis ihre Tochter sagte: "Ach Mutter, es ist doch Anna !"

Vater fand Mutter erst am nächsten Morgen; sie lag vor dem Küchenherd. Sie muss wohl noch die ganze Nacht gelebt haben, denn Vater glaubte, sie sei noch nicht lange tot. Was muss wohl in ihr vorgegangen sein ? Wir, die Tante, die anderen und ich, hatten die ganze Nacht in dem kleinen Keller zugebracht. Mich überkam am anderen Tag das Heimweh. Ich schlich mich vorsichtig nach draußen, schaute von der Anhöhe runter ins Tal. Es sah aus wie ein Hexenkessel. Von unserem Haus sah ich nur einen braunen Haufen Trümmer. Mir kamen wieder die Tränen. Plötzlich stand Vater neben mir. "Ach, da bist du ja", sagte er und drückte mich fest an sich. Dann gleich die Frage: "Wo ist denn die andere ?" ich sagte ihm: "Hier ist keine andere, ich bin alleine hier." Man hatte Vater nämlich gesagt, es wäre ein Kind im Lazarett und eins bei Familie Drees. Als er ins Lazarett kam, sagten sie ihm, ein Soldat hätte das Kind zu Drees gebracht. So meinte er, dass noch zwei am leben seien. Als ich ihm sagte, dass ich diejenige sei, die im Lazarett war, sagte er sehr niedergeschlagen: "Oh Gott, dann liegt ja noch eine mehr drunter !" Nach einem kurzen Gespräch mit der Tante nahm er mich bei der Hand und sagte: "Jetzt gehen wir runter. Anna und Hubert sind auch da." Ich hielt fast den Atem an, wagte gar nicht, etwas zu fragen. Und Vater schwieg auch. Er wusste wohl nicht, wie er mir die schreckliche Wahrheit sagen sollte. Je näher wir kamen, desto schlimmer sah es aus. Das war einmal unser Dorf gewesen. Ein Zug, der voll geladen mit Panzerfäusten auf den Schienen gestanden hatte, war in alle Richtungen explodiert; überall lagen kaputte Waggons. Als wir uns langsam und mühsam unserem Haus näherten, sagte er leise: "Das Haus ist ganz zerstört, wir haben jetzt kein Heim mehr. Wir gehen jetzt zur Höhle. Anna und Hubert sind auch da." Erst jetzt wagte ich die bange Frage:" Und wo ist Mama und die anderen ?" Vater drückte meine Hand so fest und sagte mir, dass Mutter und die Geschwister tot seien. Erfassen konnte ich das ganze Ausmaß nicht.; beschreiben kann ich das nicht, was durch mich ging.

Wir gingen dann bis zu den anderen Verwandten im Dorf, wo wir eine Kleinigkeit aßen. Gleich setzte auch wieder Artilleriebeschuss ein. Es war so schlimm, dass wir den Weg zur Höhle nicht wagen konnten. Wir wollten aber hin; Anna und Hubert waren ja auch da. Da bot sich ein deutscher Soldat an, uns mit seinem Panzer hinzubringen. Wir kletterten in den Bauch des Kolosses. Er ratterte mit uns los. Ich muss wohl sehr ängstlich dreingeschaut haben, denn der freundliche Soldat sagte, ich solle keine Angst haben, mir würde nichts geschehen.

Und tatsächlich erreichten wir unser Ziel ohne Zwischenfall. Auch allen anderen Dorfbewohner waren in dem Stollen. Als sie das Dröhnen des Panzers hörten, kamen sie alle zum Ausgang, begrüßten uns freudig und es flossen wieder viele Tränen. Dieses Mal wohnten wir in dem ersten Raum. Wir lagen auf Stroh, auf harten Steinen, es war feucht und kalt, wir hatten ja auch kaum Decken. Aber vorerst waren wir mal außer Gefahr und fühlten uns einigermaßen geborgen, waren wir doch alle zusammen, wie eine große Familie. Nahe dem Eingang hatte jemand einen kleinen Ofen aufgestellt. So konnte jeder sich in einem Topf etwas Wasser wärmen. Hubert war der sogenannte "Wassermann". Er musste das Wasser vom nahen Bach holen. So hatte jeder seine Aufgabe. Herr Badorf aus Köln war als Heizer engagiert. Die Hygiene mussten wir vergessen, da gab's gar nichts, nicht mal eine Toilette - das erledigten wir draußen im Gestrüpp. Man gewöhnte sich an vieles. Über uns im Felsen hingen Fledermäuse. Eines Nachts fiel eine runter, Anna direkt auf den Kopf und krallte sich so fest, es war ekelhaft. Ein Soldat nahm seine Mütze und versuchte das Tier aus dem Haar zu lösen, es war nicht einfach.

Ja, und dann mussten wir unsere Lieben zu Grabe tragen - kein leichtes Unterfangen, wo ja immer Beschuss aus der Luft kam. Wieder bot sich der Soldat an, die fünf Särge mit dem Panzer nach Lommersweiler zu bringen. Der Müller im Dorf hatte einen großen Schlitten, um die schweren Mehlsäcke zu transportieren. Darauf befestigten sie die Särge und so brachte er sie ins Nachbardorf zum Friedhof. Trotz ständigem Granatbeschuss waren doch noch Leute gekommen, um mit uns von den lieben Toten Abschied zu nehmen. Eine Messe gab es nicht; es musste alles schnell gehen. Wir waren alle wie erstarrt. Die Schwester des Pastors hatte für uns im Pfarrhaus eine Tasse Kaffee gemacht und dann ging es wieder schnell zur Höhle zurück. Ich hatte noch immer Schmerzen von den Quetschungen, besonders am Bein, und heftige Leibschmerzen machten mir zu schaffen. Vater lud mich auf einen Schlitten und brachte mich wieder zum Arzt ins Lazarett. Als wir zurück zur Höhle wollten, lag das Dorf wieder unter Granatbeschuss. Wie liefen, ließen uns fallen wenn es ganz nahe pfiff oder einschlug, und doch kamen wir heil oben an.

Unterwegs sahen wir an einem Abhang neben der Straße ein totes Pferd liegen. Es war so eisig kalt und das Tier war steif gefroren. Neben dem Kadaver kniete ein Soldat, versuchte sich ein Stück Fleisch aus dem Hinterteil abzuschneiden. Vater sagte zu mir: "Schau mal, der arme Junge, welchen Hunger der hat!" Dieses Bild hat mich noch lange verfolgt und noch heute denke ich oft daran.

Und das Leben ging unbarmherzig weiter. Wir hatten jedes Zeitgefühl verloren. Wochenlang hausten wir in dem Stollen. Mangels Hygiene waren wir bald alle voller Läuse. Bald forderte die Kälte und die Feuchtigkeit ihr erstes Opfer. Eine Familie aus St.Vith hatte nach dem Bombenangriff, bei dem der Vater tot blieb, im Stollen Zuflucht gefunden. Die Frau blieb zurück mit fünf Kindern. Die Kleinste, Wilma, bekam eine Lungenentzündung. Unter den gegebenen Umständen hatte sie keine Überlebenschance. Sie wurde ebenfalls auf dem Friedhof in Lommersweiler beerdigt.

Bald kam draußen wieder Hektik auf. Es hieß, die Deutschen ziehen sich zurück, die Amis kommen wieder. Am späten Nachmittag kamen drei Soldaten; sie wollten nicht mehr mit. Sie fragten die Zivilisten, ob sie sich bei ihnen verstecken könnten. So legten sie sich unter Decken und Stroh und einige Dorfbewohner über sie. Das war nicht ganz ungefährlich. Gegen 10 Uhr abends kamen zwei uniformierte SS-Soldaten und wollten wissen, ob noch jemand von den ihren da sei. Sie leuchteten mit einer Laterne jede Ecke ab. Wir hielten den Atem an. Hätten sie die drei gefunden, wäre unsere Höhle bestimmt zum Massengrab geworden. Der liebe Gott war mit uns , sie fanden nichts und zogen schnell wieder ab. Man kann sich die Erleichterung vorstellen.

Hoch über der Höhle, auf dem Felde hatte eine Artillerie Stellung bezog. Wenn die losschoss, bebte die Erde und ihr Knall lief wie ein Echo durch's ganze Tal. Ich meine noch heute oft den Abschuss zu hören.

Nun war es einmal still, sie war weg. Am nächsten Morgen waren die Amis wieder da. Wir hatten eigentlich nicht viel mitbekommen. Draußen am Felsen hing ein weißes Betttuch an einer Stange, damit sie wussten "Hier sind Zivilleute". Herr Badorf wagte sich als erster vorsichtig nach draußen, sagte den Amerikanern, dass noch drei deutsche Soldaten bei uns in der Höhle seien, die sich in Gefangenschaft begeben wollten. Sie reagierten sehr misstrauisch, pflanzten auf der Straße und um die Höhle Posten mit Maschinengewehren auf. Die drei deutschen Soltaten gingen langsam mit erhobenen Händen zur Straße.

Die Amis nahmen ihnen die Waffen ab und schlugen sogar ihre Gewehre mit dem Kolben auf der Felsen kaputt. Fünf bis sechs Wochen waren wir in der Höhle. Dann konnten wir und alle Dorfbewohner unsere finstere, feuchte Bleibe verlassen und wieder nach Hause zurückkehren.

Quelle: ZVS 1999/01 und /02, S. 17 und S.29

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