60. Jahrestag der Befreiung

ein Gedicht

Märtyrerstadt St.Vith - 25./26. Dezember 1944

Zu Hunderten wie Aasgeier in Dürrezeiten,
röcheln und kreisen in halbrunde Schleife
die Lancasters und Halifaxes über ihr Opfer.
Gehirne, Karten und Bordinstrumente trügen icht.
Koordination von geographischer Länge und Breite :
Die Stadt, die sich hinter Eis und Schnee
und Angst verbirgt.

Wie Eichelhäher im Holz gebärden sich lautlos die Sirenen
und stiften Schrecken und Verwirrung
unter sorglosen Kindern, ahnenden Müttern
und tatterigen Greisen,
vegetierend wie Asseln unter dunklen muffigen
und triefenden Gewölben.

Noch lebt die Stadt,
sich schreiend an die Hoffnung klammernd.
Wie wuchtige Hammerschläge klopft ihr Herz.
Das unsichtbare überdimensionale Knie
scheint die Brust zu zerdrücken.
Wie Asthmatiker ring sie nach Luft,
die laut und verdorben schmeckt.

8,8 speien Feuer und Stahl aus heiseren Rachen.
Und kalter Schweiß juckt Auge und Brust
kampferprobter Kanoniere.
Blitzschnell und allgergisch wie Hornissen
reagieren die Jabos und streuen Vergeltung.

Schrapnells verdecken den Stern von Bethlehem.

Sternschnuppe in Weiß.  Rote Bordlampen.
Wischendes Rauschen und Dröhnen

wie von absinkenden Schneemassen
bei Tauwetter auf lauen Schieferdächern irgendwo
im März, oder wie von kalbenden Eisbergen im Eismeer.

Gewaltige Detonationen.
Seismographische Stöße
registrieren Erdbeben im wunden Gehirn.
Flammenmeer.  Menschenfackeln aus Phosphor.
Staub, Schutt, Asche.  Schreie,
die leise verebben auf dem leeren Strand der Erlösung.

Feldgraue Flecken auf verharschtem Schnee,
angstgekrümmt und blutverkrustet.
Berge von Leichen in uneindringbare Schächte.
Hunderte von Toten :
Vielhundertmal höchstpersönlich,
vielhundertmal verschieden.
Vielhundertmal sinnlos.

Auf keinen gemeinsamen Todes-Nenner zu bringen.

Tabula rasa : Strategie der verbrannten Erde.
Danteske Visionen : Der Tod von Guerica.
Stalingrad. Warschau. Dresden. Monte Cassino.
Erst später die Höllen von Hiroshima und Nagasaki.
Fazit : Nie wieder.

Gehirne schweigen.  Bomber schweigen.
Geschütze schweigen.  Sirenen schweigen.
Tote schweigen.  Schweigsames Schweigen.

Abgebrochen gegen den mohnroten Himmel
recken sich die Bögen der Kirche
und die Kaminreste wie modern gestaltete Bühnenbilder,
schwarzgrau, im Hindergrund des Dramas.
Ein Signal winkt Durchfahrt vor stählernen Gerippen.

Aus Nacht und Schutt und Grauen
erhebt die Trümmerwüste nur mühsam ihr erkenntliches
menschenleeres erschlagenes sebastianisches Gesicht.
Aus einem Kellerloch schreit irrsinnig
die Angst Verzweiflung und stößt ihre hageren Finger
in schwelende Asche von Gewesenem
und schluchzt kniefällig vor dem Nichts.

Als letzter Gruß : OVER (The Flight Officer)

Nur der Mantel einer halbversunkenen Glocke
mahnt eisern zum Frieden.  Das Gegenteil heißt Krieg.

Warum ?
Warum ?
Warum ?

Emil GENNEN
BURG-REULAND